Ach, Chimäre!

Ein Begriff und zwei Wahrnehmungen. Eine Alltäglichkeit, bisweilen freilich unerfreulich. Zum Beispiel, handelt es sich um Chimären.

Die Chimäre ist, im Alltagsgebrauch, und wohl auch im allgemeinen Bewusstsein, ein Mischwesen, ein Ungeheuer. So beschreibt Homer sie als ein feuerspeiendes Tier mit Löwen- und Ziegenkopf sowie einer Schlange als Schweif. Ihre Schwester ist die Sphinx. Auch kein freundliches Wesen, stellt sie Wanderern doch Rätsel und tötet sie, so sie die richtige Antwort nicht wissen. Auch Kerberos, der dreiköpfige Hund mit einer Schlange als Schwanz, ist keiner, dem man begegnen will (so man in den Hades gelangt, aber begegnen muss). Von der vielköpfigen Hydra ganz zu schweigen, kaum schlägt man ihr ein Haupt ab, wachsen deren zwei nach.

Chimäre – Von Pearson Scott Foresman - Archives of Pearson Scott Foresman, donated to the Wikimedia Foundation

Chimäre – Von Pearson Scott Foresman - Archives of Pearson Scott Foresman, donated to the Wikimedia Foundation

So viel zur Chimäre und ihrer Sippe unerfreulicher Mischwesen, die, der Einfachheit halber, samt und sonders unter den Gattungsbegriff „Chimäre“ fallen.

So weit, so altgriechisch und gut.

Chimäre ist aber auch die wissenschaftliche Bezeichnung für einen Organismus aus genetisch unterschiedlichen Zellen und Geweben. Da ist noch nichts Vielköpfiges, aber ein Mischwesen ist doch sichtbar. Mikroskopisch. In Ansätzen.

In Kalifornien haben Forscher des Salk Institute – auf Basis erfolgreicher Arbeiten mit Ratten und Mäusen – Schweineembryonen mit humanen pluripotenten Stammzellen geimpft. Nur ein kleiner Teil davon entwickelte sich während der folgenden drei bis vier Wochen normal und wies sowohl menschliche (0,001 Prozent) wie auch tierische Zellen auf. Sogar Teile der rudimentär ausgebildeten Organe enthielten menschliche Zellen. Nur die Nerven nicht und somit auch nicht das, was sich als Gehirn herausbilden sollte.

Sollte.

Denn die Embryonen wurden – nach erfolgter Untersuchung – vernichtet. Dafür ging die Meldung über die veröffentlichte Studie im Fachjournal Cell in die Welt.

Und die schaudert es. Denn, was hängen bleibt in der Öffentlichkeit ist: US-Forscher schufen Chimäre! Das Menschenschwein ist Realität!

Ist es nicht. Es handelt sich hier um zwei grundverschiedene Chimären. Das, was in den Labors des Salk-Institute geschaffen wurde, ist für sich genommen und auf sich allein gestellt nicht lebensfähig. Es hat keine drei oder mehr Köpfe, es weist auch kein menschliches Bewusstsein auf.

Das, was die griechische Mythologie beschreibt, gibt es auch nicht. Nur in unseren Köpfen. Als Schreckbild. Als Dystopie.

Es wäre der deutsche Botaniker Hans Winkler, der den Fachbegriff Chimäre 1908 in Medizin und Biologie einführte, gut beraten gewesen, einen unverfänglicheren Terminus zu ersinnen. Jetzt ist es zu spät. (fvk)

Franziskus von Kerssenbrock

* 1966 Author, Journalist, Communications Expert Have written for various German and Austrian media (as DIE ZEIT, profil, DER STANDARD, HI!TECH, MERIAN, e.a.) Editor-in-chief at UNIVERSUM MAGAZIN Media Relations for Wirtschaftskammer Wien Head of Corporate Communications Oesterreichische Akademie der Wissenschaften Married, one son