Alter

Das Neue im Alten & das Gesetz der kleinen Zahl

Im Alter ist man ein anderer Mensch als in jungen Jahren. Nicht nur in Hinblick auf die Körperzellen, die im Laufe eines Lebens x-mal auf- und abgebaut werden (selbst Knochenzellen werden im Durchschnitt nach 25 bis 30 Jahren durch neue ersetzt). Nein, nein, nein. In diesem Fall geht es um die Persönlichkeit, die im Alter ganz und gar anders gestrickt ist als in der Jugend. So eine Meldung aus Schottland. Dort haben Wissenschaftler der University of Edinburgh eine 1947 gestartete Studie zu Ende geführt.

Immer noch der Alte?                                       …

Immer noch der Alte?                                                                                             ©Emma Hall/Unsplash

Vor 63 Jahren wurden 1.208 Jugendliche im Alter von 14 Jahren von ihren Lehrern bewertet. Nicht nach ihren schulischen Leistungen, sondern nach ihren Persönlichkeitsmerkmalen Selbstbewusstsein, Beharrlichkeit, Ausgeglichenheit, Gewissenhaftigkeit, Eigenwilligkeit und dem Ziel, Spitzenleistungen zu erbringen.

635 der damals Jugendlichen wurden im Jahr 2012 von den Forschern kontaktiert und gefragt, ob sie an einem weiteren Persönlichkeitstest teilnehmen würden. 174 von ihnen erklärten sich dazu bereit.

Diesmal sollten sie sich selbst bewerten und sich von einem engen Freund oder einem Familienmitglied bewerten lassen.

Das Ergebnis überraschte die Forscher insofern, als die seinerzeit erhobenen Persönlichkeitsstrukturen nichts oder nur wenig mit den aktuellen verband. Die Überraschung rührte daher, als die Forschung bislang davon ausgeht, dass die Persönlichkeitsstruktur eines Menschen relativ stabil ist. Darauf weisen Untersuchungen hin, die bei Menschen zwischen ihrer Kindheit und dem mittleren Erwachsenenalter, sowie bei Personen zwischen mittlerem Erwachsenenalter und hohem Alter durchgeführt worden waren.

Die Wissenschaftler aus Edinburgh kommen nun zu dem Schluss, dass, wenn das Untersuchungsintervall auf einen Zeitraum von 63 Jahren angehoben wird, zwischen den Persönlichkeitsmerkmalen kaum Verbindung besteht.

Ein neuer Mensch im Alter: Das sorgt für Schlagzeilen.

Und ist doch voreilig.

Zum einen wurden die Jugendlichen einst von ihren Lehrern beschrieben, nicht von sich selbst. Da hakt es schon ein wenig mit der Vergleichbarkeit der Daten.

Zum anderen behandelt die Studie gerade einmal Ergebnisse von 174 Personen. Das ist eine wirklich sehr kleine Zahl an Probanden, von der aus Schlüsse auf die Allgemeinheit gezogen werden.

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Immer noch dieselbe?                                                                                   ©Ismael Nieto/Unsplash

Daniel Kahneman beschäftigt sich in „Schnelles Denken, langsames Denken“ eingehend mit dem „Gesetz der kleinen Zahlen“ und bringt dazu folgendes Beispiel: „,Bei einer telefonischen Befragung von 300 Senioren erklärten 60 Prozent ihre Unterstützung für den Präsidenten‘ Wenn Sie die Botschaft dieses Satzes in genau drei Wörtern zusammenfassen sollten, wie würde diese lauten? Höchstwahrscheinlich würden Sie ,Senioren unterstützen den Präsidenten‘ äußern. Die weggelassenen Einzelheiten der Erhebung – dass sie telefonisch durchgeführt wurde und die Stichprobe 300 Personen umfasste – sind für sich genommen uninteressant; sie liefern Hintergrundinformationen, die wenig Aufmerksamkeit auf sich ziehen [...] Die starke Tendenz, zu glauben, dass kleine Stichproben weitgehend mit der Population übereinstimmen, der sie entnommen wurden, ist ebenfalls Teil einer allgemeineren kognitiven Verzerrung: Wir neigen dazu, die Konsistenz und Kohärenz dessen, was wir sehen, zu überzeichnen.“

Eine Tendenz, die Kahneman auch bei Forschern ausmacht. Merke, auch Wissenschaftler sind nur Menschen.

Insofern ist die Meldung aus Schottland mit Vorsicht zu genießen. Sie ist keine neue Erkenntnis. Sie ist im besten Fall ein Detailergebnis, welches bei weiteren Studien in Betracht gezogen werden kann und soll.

Dass sich Persönlichkeitsmerkmale ändern, das ist ein Faktum. Dass die Persönlichkeit bei Älteren sich in derselben Geschwindigkeit ändern kann wie bei Jungen, das belegt eine Studie der Freien Universität Berlin aus dem Jahr 2014, die mit immerhin 23.000 Probanden in Deutschland und Australien durchgeführt wurde. Selbst bei über 70jährigen kann sich die Persönlichkeit noch dramatisch wandeln.

Was die Berliner Studie und nun jene aus Edinburgh gemeinsam haben, ist, dass sie darauf hinweisen, dass Individuen sich im Laufe ihres Lebens auch in Hinblick auf ihr Denken, Empfinden und Verhalten stärker verändern können als bisher angenommen. Von einem völlig anderen Menschen zu sprechen, erscheint im besten Fall voreilig. (fvk)