Identität

Woche 47 – Oh,oh, die Leitkultur

Sie haben es wieder getan. In München warf dieser Tage die CSU den Begriff der Leitkultur in die aktuelle bundesrepublikanische Auseinandersetzung um Migration, Integration und Antisemitismus. Es scheint, als wäre es gestern erst gewesen und ist doch schon 15 Jahre her, dass sich um eben diesen Begriff heftige Debatten entzündet hatten. Hohn, Spott und Faschismusverdacht inklusive.

© Lawrence Chismorie/unsplash.com

Wobei, so falsch ist die Idee einer Leitkultur nicht.

Was eine Gesellschaft im Innersten zusammenhält, das ist ihre Geschichte. Womit nicht allein ihre Historie gemeint ist, als vielmehr auch ihr Narrativ. Also, auf welchen Erzählungen, welchem gemeinschaftlichen Erleben, auf welcher über die Jahrzehnte, Jahrhunderte gemeinsam geteilten Wahrnehmungen und auf welcher Übereinkunft sie beruht.

Zum Beispiel Österreich, dessen maria-theresianisch-josephinisch aufgeklärter Beamtenstaat, der, vor rund 250 Jahren etabliert, bis heute existiert und sich im Denken, Fühlen, im alltäglichen Leben der Menschen dieses Landes nachdrücklich manifestiert. Die penible Verwaltung allen Seins, die mit einem bisweilen barock verspieltem Element absurden Unernstes einhergeht, ist unbedingt eine prägende Konstante, deren Wirkung bis tief in die Alltagskultur der Gegenwart reicht.

Oder die Kultur an und für sich.

Schon zu Zeiten der Ersten Republik wurden die einstige Hof- und nunmehrige Staatsoper mitsamt ihrem Orchester, aus dem sich die Wiener Philharmoniker rekrutieren, als identitätsstiftendes Element erkannt und identitätspolitisch eingesetzt. Gleichsam als Präludium zur Strategie, unmittelbar nach Kriegsende 1945 Österreichs beschwingt barocke Kultur in Gegensatz zum stur-starren preußischen Militarismus zu setzen und damit vor allem in den USA Sympathien zu gewinnen. Erfolgreich übrigens.

So erfolgreich, dass Burg und Oper im österreichischen Alltag Positionen einnehmen, von denen Kulturinstitutionen anderer Länder nur träumen können. Im Zuge eines Gesprächs erinnerte sich einmal Gert Voss, wie aufregend es für die Bochumer Schauspieler rund um Claus Peymann gewesen war, 1986 in ein Land zu kommen, das nicht nur einen eigenen Kulturminister hatte, sondern in dem die Entwicklungen am, im und rund um das Burgtheater als schlagzeilenwürdig erachtet und auch von Menschen, die weder Burg noch Oper je besuchten, kommentiert wurden. Die Frage, wer den Jedermann und wer die Buhlschaft in Salzburg spielt, ist hierzulande nach wie vor ebenso gewichtig wie die Frage, wer die Fußballnationalmannschaft trainiert.

Deren Sieg im argentinischen Cordoba anno 78 ist im österreichischen Bewusstsein wiederum so prominent abgespeichert, dass selbst jüngere Erfolge gegen den Erzrivalen aus Deutschland davon überlagert werden. Und das „I wer narrisch“ des Edi Finger hat sich im akustischen Gedächtnis der Österreicher so sehr festgesetzt wie John F. Kennedys „Isch bin ain Bärliner“ in jenem Deutschlands.

Und doch sind das alles nur Komponenten und Momentaufnahmen eines großen Ganzen, einer mächtigen Tiefenströmung, die sich unablässig weiterentwickelt, hier etwas aufnimmt, inkorporiert, dort etwas dem Vergessen anheim fallen lässt, die dann und wann an der Oberfläche etwas glitzern, flirren und sich kräuseln lässt, die Strudel der Moden eben. Wesentlich ist, dass grundlegende Parameter über lange Zeit ihre Gültigkeit behalten, dass sie zur Ausgestaltung einer gemeinsamen Identität beitragen. Leitkultur verbindet.

Das ist ihr Wesen.

Sie ermöglicht das Lesen einer Gesellschaft und ihrer vielen verschiedenen Codes, mithin das Verstehen und damit wiederum aktive Teilhabe. Sie ist in Textur und Tonalität etwa der Sprache wahrnehmbar, sie ist im Umgang unter- und miteinander ebenso sichtbar wie sie in Gefühlswallungen und Verhaltensweisen manifest ist. Sie äußert sich auch darin, wie mit öffentlichem Raum, mit Landschaft, Natur, Stadt und Architektur verfahren wird. In ihr drücken sich Selbstbewusstsein, Eigenwahrnehmung und Standpunkte aus.

Sie bietet, dank ihrer Breite und Tiefe, Orientierung.

Das ist der Punkt.

Daran fehlt es zurzeit.

Was macht die Identität Europas aus? Was jene Österreichs? Darüber besteht aktuell kaum noch Konsens. Das mag mit dazu beitragen, dass die Gesellschaft als in sich gespalten wahrgenommen wird, dass Emotionen überborden und politisch extreme Ränder – die Orientierung versprechen – an Zulauf gewinnen und daraus postwendend den Anspruch erheben, die einzig wahre Identität des Landes zu repräsentieren.

Also spricht alles dafür, dass die Mitte der Gesellschaft die Diskussion nicht länger meidet, sondern sie aus sich heraus mit aller Kraft reklamiert und vorantreibt, keine Scheu zeigt, Tabus anzusprechen, Prinzipien abzuklopfen und zu formulieren, Limitationen zu benennen, kulturelle Entwicklungs- ebenso wie Bruchlinien zu beschreiben, um im Zuge all dieser Auseinandersetzung eine gemeinsame, verbindende Basis zu formulieren und – den radikalen Krakeelern an den Rändern nachhaltig Boden zu entziehen. Mehr noch aber, um allen anderen Orientierung zu bieten, das Lesen und Verstehen der Gesellschaft zu ermöglichen. Genauso wie die Teilhabe, die Leitkultur immer wieder zu debattieren und an ihrer Fortschreibung mitzuwirken. (fksk, 26.11.23)

Woche 05 – Waldhäuslheimat

Woche 49 des russischen Kriegs gegen die Ukraine. Während Putin in Wolgo- vulgo Stalingrad die Feier zum Sieg über das Ende der 6. deutschen Armee vor 80 Jahren nutzt, um Deutschland wegen seiner Panzerlieferungen zu drohen, tobt in und um Bakhmut unvermindert eine Schlacht, bei der die russische Seite Soldaten und Söldner Welle auf Welle gegen die ukrainischen Stellungen wirft und dabei horrende eigene Verluste an Menschenleben billigend in Kauf nimmt. Nach vorsichtigen Schätzungen aus den USA und Großbritannien hat die russische Armee mitsamt ihren Söldnertruppen bereits rund 200.000 Mann verloren. Weitere 300.000 Mann stehen in den besetzten Gebieten bereit, eine neue Offensive gegen die Ukraine durchzuführen, um Putins Traum vom wiedergewonnenen Imperium neuen Schwung zu verleihen.

© Geran de Klerk/unsplash.com

Währenddessen macht sich in Österreich ein Herr Waldhäusl Luft und erklärt Wiener Schülerinnen mit Migrationshintergrund vor laufenden TV-Kameras, wären sie nicht in Wien, wäre Wien wieder Wien. Herr Waldhäusl ist dank des Proporzes  „Asyllandesrat“ in Niederösterreich, FPÖ-Politiker, macht laut Landeshauptfrau Mikl-Leitner einen „ordentlichen Job“ und stammt aus dem nördlichen Zipfel des Waldviertels, von wo die Menschen abwandern. Nach Wien. Zum Beispiel.

Die Schülerinnen erfahren nun Solidarität von EU- und Verfassungsministerin Edtstadler über den Wiener Bürgermeister Ludwig bis hin zur liberalen Nationalratsabgeordneten Krisper, Nichtregierungsorganisationen und Medien. Es ist einer jener inzwischen rar gewordenen Momente, in denen jenseits der Rechtsaußen agierenden Freiheitlichen parteiübergreifend Konsens herrscht.

Es ist einer jener Momente, die die Republik seit 1986 gefühlt tausendmal er- und durchlebt hat, die einem eigenen Rhythmus und einer eigenen Struktur folgen, die ein Ritual darstellen, letztlich aber nichts ändern. Es sehen sich nur beide Seiten, die Waldhäusels dieses Landes und alle anderen, sich in ihrer Haltung bestätigt.

Dabei ist gerade diese Aussage, wonach Wien nicht mehr Wien sei, ein guter Ansatzpunkt, eine wichtige, eine überfällige Diskussion zu starten. Nicht nur über Wien, sondern über Österreich.

Die Frage ist, was ist Österreich? Jenes des Herrn aus dem nördlichen Niederösterreich? Oder jenes zum Beispiel der Wiener Nationalratsabgeordneten Krisper? Was ist, worin gründet die Identität der Republik und ihrer Menschen, was zeichnet sie aus?

Die gängigen Antworten von der Nation der Skifahrer über die Kulturgroßmacht bis hin zum Brückenbauer zwischen Ost und West beziehen sich auf ein Land und eine Gesellschaft, die beide heute so nicht mehr existieren. Sie waren, mit Einschränkungen, einmal durchaus richtig. In den 60er und 70er Jahren, mithin in einer Zeit, nach deren retrospektiver Übersichtlichkeit sich viele zurücksehnen.

Der Fall des Eisernen Vorhangs und der Beitritt zur Europäischen Union aber zeitigten massive Auswirkungen, als Österreich von einer Randlage, von der Sackgasse wieder in ein lebendiges Zentrum des Kontinents geriet. Mit allen Konsequenzen.

Allein, schon zur Volksabstimmung über den Beitritt zur EU wurde dem Wahlvolk ein ums andere Mal versichert, dass sich eigentlich und im Grunde gar nichts ändern würde. Das Schnitzel bliebe das Schnitzel, der Erdäpfelsalat Erdäpfelsalat und die Marmelade Marmelade. Oder so ähnlich. Schmecks.

Österreich hat sich in den letzten 30 Jahren grundlegend verändert. Die Republik von heute gleicht in vielen, zumal in wesentlichen Aspekten nicht mehr jener von damals. Wien ist zu einer wachsenden europäischen Metropole geworden, Oberösterreich zu einem Standort zukunftsorientierter Industrien, selbst das Agrarland Niederösterreich definiert sich heute mehr über Industrie und Gewerbe, über Forschung und Entwicklung denn über die Hektarerträge an Getreide. Österreich ist ein Einwanderungsland geworden. Allein in Wien werden mehr als 100 Sprachen als Muttersprachen gesprochen. In kaum einen anderen Land der Union leben mehr Menschen mit anderer Staatsangehörigkeit. Selbst wenn es immer wieder Probleme mit, vor allem jungen männlichen, Zuwanderern gibt, gelingt die Integration so schlecht nicht. Es gibt, grosso modo, keine No-go-Areas, keine Zustände wie in den Banlieues von Paris, keine Viertel, in die Polizei, Feuerwehr und Rettungskräfte sich nicht mehr trauen, wie es aus Berlin berichtet wird. Das ist eine Leistung der alteingesessenen Bevölkerung ebenso wie der hinzugekommenen. Eigentlich eine Erfolgsgeschichte.

Alles das ist nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was sich in knapp 30 Jahren verändert hat. Es hat sich viel verändert.

Sprechen Österreicher von und über Österreich, dann haben sie tendenziell immer das Land von vor mehr als 30 Jahren vor Augen.

Nicht nur weil die Waldhäusls sich nach einer Vergangenheit sehnen, die es selbst damals so nicht gegeben hat, sondern weil auch die Vertreter der anderen wesentlichen politischen Bewegungen lieber mit althergebrachten Versatzstücken liebäugeln, als den Änderungen und den damit verbundenen Konsequenzen ins Auge zu blicken.

Das aber ist hoch an der Zeit, es ist überfällig, längst überfällig. Denn der Wandel, die Veränderungen, sie sind manifest. Sie sind nicht zu übersehen und sie sind schon gar nicht rückgängig zu machen. Sie wirken sich auf alle, ausnahmslos alle Bereiche und Belange der Republik und ihrer Menschen aus. Diese Änderungen beim Namen zu nennen, etwa Österreich endlich als das anzuerkennen, was es ist, ein Einwanderungsland und damit eine Einwanderungsgesellschaft, fällt indes vielen Menschen, zumal Politikern, schwer. So wie auch Österreich als gestaltenden Teil, als initiatives Subjekt der Europäischen Union zu begreifen oder seine aktive Teilnahme einer europäischen und globalen Sicherheitsarchitektur (was Österreich allein schon durch seine Bundesheerkontingente vor allem in Bosnien-Herzegowina und in Kosovo unter Beweis stellt) unter Hinweis auf die trügerische Sicherheit der Neutralität nicht einmal diskutieren zu wollen.

Für all dieses beharrliche Negieren, zur Seite schauen, nicht einmal ignorieren, daran trägt nicht Waldhäusls Partei alleine Schuld, daran haben samt und sonders alle politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Kräfte Teil. Aus Bequemlichkeit.

Nur, bequem wird es nicht mehr. Die Debatte über die facettenreiche Identität Österreichs und was sie bedeutet, ist überfällig. Dann und erst dann wird es möglich, das Ritual zu durchbrechen. (fksk, 05.02.23)