Europa

Woche 03 – Putin macht Schule

Das klingt vertraut: Erewan sei, betonte unlängst Aserbeidschans Präsident Alijew, von alters her und also immer schon aserbeidschanisches Territorium und Siedlungsgebiet. Dass die Stadt, noch dazu als Hauptstadt, armenisch ist, das verdanke sich nur einem dummen Zufall aus den frühen Tagen der Sowjetunion. So klang Alijew bereits 2018. Jetzt hat er es wieder in den Raum gestellt. Diesmal nach militärischen Erfolgen und im Schatten des russischen Kriegs in der Ukraine.

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Putins Beispiel macht Schule.

Als die russische Armee vor bald zwei Jahren alle Grenzen überschritt und nach der Krim und dem Donbass 2014 auf breiter Front in die Ukraine einfiel, setzte Moskau damit ein Exempel. Die internationale Ordnung, nach 1945 geschaffen auf Basis völkerrechtlicher Verträge und Verpflichtungen, ein System, dazu gedacht, Konflikte und Kriege hintanzuhalten, all das gilt nichts mehr. Allenfalls gelten sie als Instrumente des perfiden Westens zur Unterdrückung der Welt. Das ist ein unverhohlenes Signal an autoritäre Machthaber in anderen Weltgegenden, sich zu holen, was ihnen ins Auge sticht.

Die rohstoffreichen Regionen Guyanas etwa, auf die Venezuela Anspruch erhebt, abgesichert durch ein Referendum, in dem dieser Anspruch unter der eigenen Bevölkerung abgefragt wurde. Was die Bevölkerung in Guyana dazu zu sagen hätte, interessiert in Caracas nicht.

In Belgrad spitzt Präsident Vucic seit Monaten schon Sprache und Politik gegenüber dem Kosovo zu. Die serbische Armee wird aufgerüstet, um zu gegebenem Zeitpunkt der Unabhängigkeit der einstigen Provinz ein gewaltsames Ende zu bereiten und wohl auch der Eigenständigkeit Montenegros. Parallel dazu erhöht der Präsident des bosnisch-herzegowinischen Kantons Republika Srpska, Herr Dodik, die regionalen Spannungen und stellt die Vereinigung mit Serbien in den Raum.

Währenddessen nehmen die, von Iran unterstützten, Huthis von Jemen aus den Schiffsverkehr im Roten Meer ins Visier, feuern Raketen auf Frachtschiffe ab oder versuchen sie zu kapern. Im Irak erhöhen mit Iran verbündete Milizen ihre Attacken auf kurdische und US-amerikanische Einrichtungen, während Iran selbst Ziele in Pakistan mit Marschflugkörpern angreift – um Terroristen zu bestrafen, wie Teheran beteuert. Die Atommacht Pakistan antwortet ihrerseits mit Raketenangriffen auf iranische Ziele. Eine beunruhigende Entwicklung, die die Führung der afghanischen Taliban veranlasst, dringlich vor einem Dritten Weltkrieg zu warnen und die internationale Gemeinschaft zu beschwören, alles zu unternehmen, jede weitere Eskalation zu verhindern. Kim Jong-un unterdessen spekuliert so offen wie nie zuvor über einen Krieg gegen Südkorea.

Man kann sagen, die Lage spitzt sich zu.

Sie spitzt sich auch zu, weil der Westen als schwach wahrgenommen wird. Nach zwei Jahren des Kriegs in der Ukraine mehren sich die kriegsmüden Stimmen in Europa und den USA. In Washington blockieren die Republikaner dringend benötigte Gelder für die Ukraine. In der Europäischen Union ist es Ungarn, das blockiert.

Freilich nicht nur Ungarn. Die Union hat hehren Worten und wohltönenden Versprechen keine entsprechenden Taten folgen lassen. Immer noch hinkt die europäische Rüstungs- und Munitionsproduktion den eigenen Vorgaben weit hinterher, noch immer kann Europa aus eigener Kraft die Ukraine nicht unterstützen, noch immer taktieren wesentliche Politiker und zögern essenzielle Waffenlieferungen hinaus, so wie Deutschlands Kanzler Scholz, der die Taurus nicht und nicht freigibt. Die Zeitenwende, die er vor zwei Jahren unter dem Eindruck der russischen Aggression ausrief, materialisiert sich nicht. Nicht in konsequenter Politik. Nicht in robustem Handeln.

Dabei ist es die Ukraine, in der kommende Konflikte, Krisen und Kriege eingehegt werden können. Ist Europa nicht in der Lage, nicht fähig und willens, ein europäisches Land, das sich einem Vernichtungskrieg gegenüber sieht, mit allen Mitteln und mit aller Kraft zu unterstützen, dann ist auch das auch eine Botschaft an die Welt.

Es wäre das Eingeständnis, dass Politik nach Putinart nunmehr das Maß aller Dinge ist; dass Grenzen ebenso wie internationale Vereinbarungen nichts mehr gelten; dass Gewalt Vorrang vor Diplomatie hat; dass Europa sich in die neue Weltordnung nach dem Gusto Moskaus und Pekings fügt. Nicht zu seinem Vorteil. Putin und seine Gefolgsleute geben unumwunden ihre nächsten Ziele preis: das Baltikum, Polen, Finnland. Mindestens.

Dem kann Europa einen Riegel vorschieben. Indem es gezielt seine industriellen Kapazitäten nutzt, die Ukraine mit allen notwendigen Waffensystemen, Nachschub und Material zu versorgen, damit Kiyv an der Front Oberhand gewinnt – und Russland zum Rückzug zwingt. Mehr noch, Europa muss sein Sanktionsregime gegenüber Russland deutlich verschärfen und alle bislang geduldeten Schlupflöcher, über die nach wie vor strategisch wichtige Güter nach Russland gelangen, schließen. Und während Europa die Ukraine voll und ganz unterstützt, muss es seine militärische Abhängigkeit von den USA rasch reduzieren.

Damit ist Kim Jong-un noch nicht in die Schranken gewiesen. Das hält Maduro nicht davon ab, sein Nachbarland Guyana teilen zu wollen. Aber es ist ein unmissverständliches Zeichen dafür, dass die Union bereit ist, ihre Interessen, ihre Friedens- und Sicherheits-, Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung auch robust zu verteidigen.

Alles das ist mit Kosten, Mühe und Risiken behaftet. Sie sind indes gering im Vergleich zu jenen Kosten, mit denen Europa und seinen Menschen konfrontiert werden, wenn Putins Politik Schule macht. Man kann sagen, es ist eine Investition in die Zukunft. Sie muss jetzt getätigt werden. (fksk, 21.01.2024)

Woche 47 – Oh,oh, die Leitkultur

Sie haben es wieder getan. In München warf dieser Tage die CSU den Begriff der Leitkultur in die aktuelle bundesrepublikanische Auseinandersetzung um Migration, Integration und Antisemitismus. Es scheint, als wäre es gestern erst gewesen und ist doch schon 15 Jahre her, dass sich um eben diesen Begriff heftige Debatten entzündet hatten. Hohn, Spott und Faschismusverdacht inklusive.

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Wobei, so falsch ist die Idee einer Leitkultur nicht.

Was eine Gesellschaft im Innersten zusammenhält, das ist ihre Geschichte. Womit nicht allein ihre Historie gemeint ist, als vielmehr auch ihr Narrativ. Also, auf welchen Erzählungen, welchem gemeinschaftlichen Erleben, auf welcher über die Jahrzehnte, Jahrhunderte gemeinsam geteilten Wahrnehmungen und auf welcher Übereinkunft sie beruht.

Zum Beispiel Österreich, dessen maria-theresianisch-josephinisch aufgeklärter Beamtenstaat, der, vor rund 250 Jahren etabliert, bis heute existiert und sich im Denken, Fühlen, im alltäglichen Leben der Menschen dieses Landes nachdrücklich manifestiert. Die penible Verwaltung allen Seins, die mit einem bisweilen barock verspieltem Element absurden Unernstes einhergeht, ist unbedingt eine prägende Konstante, deren Wirkung bis tief in die Alltagskultur der Gegenwart reicht.

Oder die Kultur an und für sich.

Schon zu Zeiten der Ersten Republik wurden die einstige Hof- und nunmehrige Staatsoper mitsamt ihrem Orchester, aus dem sich die Wiener Philharmoniker rekrutieren, als identitätsstiftendes Element erkannt und identitätspolitisch eingesetzt. Gleichsam als Präludium zur Strategie, unmittelbar nach Kriegsende 1945 Österreichs beschwingt barocke Kultur in Gegensatz zum stur-starren preußischen Militarismus zu setzen und damit vor allem in den USA Sympathien zu gewinnen. Erfolgreich übrigens.

So erfolgreich, dass Burg und Oper im österreichischen Alltag Positionen einnehmen, von denen Kulturinstitutionen anderer Länder nur träumen können. Im Zuge eines Gesprächs erinnerte sich einmal Gert Voss, wie aufregend es für die Bochumer Schauspieler rund um Claus Peymann gewesen war, 1986 in ein Land zu kommen, das nicht nur einen eigenen Kulturminister hatte, sondern in dem die Entwicklungen am, im und rund um das Burgtheater als schlagzeilenwürdig erachtet und auch von Menschen, die weder Burg noch Oper je besuchten, kommentiert wurden. Die Frage, wer den Jedermann und wer die Buhlschaft in Salzburg spielt, ist hierzulande nach wie vor ebenso gewichtig wie die Frage, wer die Fußballnationalmannschaft trainiert.

Deren Sieg im argentinischen Cordoba anno 78 ist im österreichischen Bewusstsein wiederum so prominent abgespeichert, dass selbst jüngere Erfolge gegen den Erzrivalen aus Deutschland davon überlagert werden. Und das „I wer narrisch“ des Edi Finger hat sich im akustischen Gedächtnis der Österreicher so sehr festgesetzt wie John F. Kennedys „Isch bin ain Bärliner“ in jenem Deutschlands.

Und doch sind das alles nur Komponenten und Momentaufnahmen eines großen Ganzen, einer mächtigen Tiefenströmung, die sich unablässig weiterentwickelt, hier etwas aufnimmt, inkorporiert, dort etwas dem Vergessen anheim fallen lässt, die dann und wann an der Oberfläche etwas glitzern, flirren und sich kräuseln lässt, die Strudel der Moden eben. Wesentlich ist, dass grundlegende Parameter über lange Zeit ihre Gültigkeit behalten, dass sie zur Ausgestaltung einer gemeinsamen Identität beitragen. Leitkultur verbindet.

Das ist ihr Wesen.

Sie ermöglicht das Lesen einer Gesellschaft und ihrer vielen verschiedenen Codes, mithin das Verstehen und damit wiederum aktive Teilhabe. Sie ist in Textur und Tonalität etwa der Sprache wahrnehmbar, sie ist im Umgang unter- und miteinander ebenso sichtbar wie sie in Gefühlswallungen und Verhaltensweisen manifest ist. Sie äußert sich auch darin, wie mit öffentlichem Raum, mit Landschaft, Natur, Stadt und Architektur verfahren wird. In ihr drücken sich Selbstbewusstsein, Eigenwahrnehmung und Standpunkte aus.

Sie bietet, dank ihrer Breite und Tiefe, Orientierung.

Das ist der Punkt.

Daran fehlt es zurzeit.

Was macht die Identität Europas aus? Was jene Österreichs? Darüber besteht aktuell kaum noch Konsens. Das mag mit dazu beitragen, dass die Gesellschaft als in sich gespalten wahrgenommen wird, dass Emotionen überborden und politisch extreme Ränder – die Orientierung versprechen – an Zulauf gewinnen und daraus postwendend den Anspruch erheben, die einzig wahre Identität des Landes zu repräsentieren.

Also spricht alles dafür, dass die Mitte der Gesellschaft die Diskussion nicht länger meidet, sondern sie aus sich heraus mit aller Kraft reklamiert und vorantreibt, keine Scheu zeigt, Tabus anzusprechen, Prinzipien abzuklopfen und zu formulieren, Limitationen zu benennen, kulturelle Entwicklungs- ebenso wie Bruchlinien zu beschreiben, um im Zuge all dieser Auseinandersetzung eine gemeinsame, verbindende Basis zu formulieren und – den radikalen Krakeelern an den Rändern nachhaltig Boden zu entziehen. Mehr noch aber, um allen anderen Orientierung zu bieten, das Lesen und Verstehen der Gesellschaft zu ermöglichen. Genauso wie die Teilhabe, die Leitkultur immer wieder zu debattieren und an ihrer Fortschreibung mitzuwirken. (fksk, 26.11.23)

Woche 46 – Es geht um viel. Es geht um alles

Es geht um die Existenz. Um jene Israels und der Ukraine als demokratische Staaten und Gesellschaften, frei von äußerer Bedrohung. Der 7. Oktober 23 und der 24. Februar 22 markieren zwei Einschnitte, die tiefer und schmerzvoller nicht sein könnten. Zuallererst für Israel und die Ukraine, für die es in letzter Konsequenz um Sein oder Nichtsein geht. Es geht aber auch, und das ist wesentlich, um die Existenz des Westens, insbesondere Europas, als wertebasierter Kultur.

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Russlands Krieg, der im Februar 22 nach dem Osten der Ukraine und der Krim nun auch Kyiv und das ganze Land zum Ziel hatte, war und ist auch ein Vernichtungsfeldzug gegen die europäische Friedensordnung, die europäische Einigung, das internationale Völkerrecht und gegen die Prinzipien des Universalismus. Der Pogrom der Hamas war und ist auch eine Attacke auf liberale, offene, der Menschenwürde verpflichtete Gesellschaften, wie sie der Westen zu leben anstrebt.

An Angriffen auf westliche Prinzipien, gegen die Idee des Westens hat es im Laufe der Geschichte nicht gefehlt. Trotzdem unterscheidet sich aktuelle Lage grundlegend von allen Herausforderungen seit 1945. Es geht darum, ob die westlichen Gesellschaften in aller Konsequenz bereit sind, für ihre Grundwerte einzustehen, dafür Konflikten nicht aus dem Weg zu gehen und gegenüber autoritären Regimen und totalitären Ideologien klare Grenzen zu benennen. Oder, ob sie versuchen, sich des lieben Friedens und der guten Geschäfte wegen und auch weil man sich gegenüber der Welt schuldig gemacht hat, mit Kompromissen Zeit zu erkaufen. Um letztlich doch klein beizugeben.

Es geht bei dieser notwendigen Standortbestimmung um mehr als um Waffenlieferungen, wohlfeile Solidaritätsadressen und freundliche Worte in Essays, auf Symposien und Demonstrationen. Es geht um des Westens Wesenskern.

Es müssen die Grundlagen wieder definiert werden, die notwendig für den gesellschaftlichen Aufbau und Zusammenhalt sind. Es muss Konsens darüber bestehen, was die westlichen Gesellschaften ausmacht, was sie von anderen, von totalitären, autoritären, faschistischen, kommunistischen Regimen und sogenannten illiberalen Demokratien glasklar unterscheidet.

Dieser Prozess ist schon im Gange. Er hat im Grunde noch vor Russlands grünen Männchen auf der Krim im Jahr 2014 begonnen, wenngleich zaghaft nur und gleichsam subkutan.

Der Februar 22 indes markiert eine tektonische Verschiebung, die nicht mehr ignoriert werden kann. Selbst wenn die Debatte zäh vonstatten geht, wenn sie lahmt und bisweilen lähmt, wenn sie teilweise in eine Generalanklage gegen den Westen mündet, der seine Vorherrschaft mit allen Mitteln zu sichern trachte, worunter der Globale Süden leide (zu dem dann auch China und Russland gezählt werden), diese Debatte ist mitsamt ihren Nebensträngen und regionalen Ausprägungen nicht mehr aus der Welt zu schaffen.

Was lange schwelt wird jetzt akut. Der Oktober 23 markiert eine weitere tektonische Erschütterung, als es nun dringend um die Frage geht, wie die Menschen in einer westlich geprägten, demokratisch verfassten Gesellschaft zusammenleben wollen, was diese Gesellschaften ausmacht – von den Rechten der Frauen bis hin zu jenen ethnischer, religiöser und sexueller Minderheiten. Und wie mit jenen zu verfahren ist, die die Prinzipien der offenen Gesellschaft zugunsten einer anderen, ihrer Ordnung bekämpfen, mit jenen, die ein Kalifat in Deutschland fordern und mit jenen, die sich am Kampf gegen vermeintlich verschworene Eliten und das System berauschen.

Es müssen der Westen und Europa, zu einer klaren, unmissverständlichen Sprache finden. Selbst wenn das bedeutet, dass es schmerzt. Und das wird es.

Denn nun muss benannt werden, was zu lange vage nur und nach Möglichkeit freundlich, keinesfalls verletzend umschrieben wurde. Wer etwa in Europa Asyl sucht oder auch nur eine neue Heimat, die Perspektiven bietet, muss die Prinzipien und die Herausforderungen einer offenen und pluralen Gesellschaft akzeptieren, kann sich und seine Ansichten und Glaubenssachen nicht über das Gesetz stellen. So wenig wie sich jeder andere über die Rechtsordnung stellen kann. Vor dem Gesetz sind alle Bürger gleich. Dieser Grundsatz gilt uneingeschränkt und ausnahmslos.

Lange, viel zu lange war der Westen der Überzeugung, dass sich alle Welt letztlich nach seinem Vorbild formen werde. Dass auf Handel notwendigerweise Wandel folgen werde. Dass Konfrontation durch Kooperation ersetzt und diese bunte, freundliche Weltzivilisation sich einfach ohne weiteres Zutun ergeben werde. Dass es keiner intellektuell anstrengenden Argumentationen mehr bedürfe als vielmehr gelungenem Marketings.

Welch ein Irrtum. Längst schon werden Grundwerte des Westens gegen ihn ins Feld geführt, wird der Universalismus als (post)koloniales Projekt verleumdet, wird eine regelbasierte globale Ordnung als perfides Instrument westlicher Vorherrschaft gebrandmarkt, wird die parlamentarische Demokratie als abgehobenes Elitenprojekt dargestellt. Und alles das wird nicht etwa nur von außen in den Westen hineingetragen, es kommt auch aus seinem Innersten. Von links bis rechts wird die westliche Zivilisation nicht nur radikal in Frage gestellt, sie wird zusehend von einer absurd scheinenden Koalition, die von Corbyn und Melenchon über Orban und Kickl bis hin zu Trump reicht, bis aufs Äußerste bekämpft.

Mit Russlands Krieg gegen die Ukraine und dem – anhaltenden – Terror der Hamas gegen Israel erfährt diese Entwicklung nun eine Beschleunigung. Innerhalb der westlichen Gesellschaften brechen bislang undenkbare, in ihrer Vehemenz unerwartet heftige Konflikte auf. Einerlei, ob es die Liebe und Treue der extremen Rechten (und vieler Linker) zur Herrschaft Putins oder die Liebe und Treue der extremen Linken (und vieler Rechter) zur islamistischen Hamas ist, beides wendet sich explizit und unumwunden gegen den Westen, gegen Europa.

Dem gilt es sich zu stellen und die Chance mit Lust und Verve und Lebensfreude zu nutzen, Werte, Prinzipien und Ziele der westlichen Zivilisation zu beleben, zu leben, sie wo immer notwendig weiterzuentwickeln und zu stärken und auch damit Israel und der Ukraine tatkräftig zur Seite zu stehen. Konsequent und robust. Es geht um viel. Es geht um alles. (fksk, 19.11.23)

Woche 10 – Europäische Standortbestimmung

Es ist ein Bild, das man nicht so leicht vergisst. Unter all den tausenden Demonstranten, die in Tiflis gegen das „Fremde Agenten“-Gesetz auf die Straße gehen, ist diese eine Frau, die das Sternenbanner der EU schwenkt. Bis der Strahl des Wasserwerfers sie trifft und zurückdrängt. Aber sie bleibt nicht alleine, ein Mann stärkt ihr den Rücken, gemeinsam stemmen sie sich gegen den nächsten Strahl, werden abermals zurückgedrängt, bis immer mehr Menschen sich um die Frau mit dem Sternenbanner scharen und gemeinsam vordrängen.

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Die Regierung in Georgien hat den Gesetzesentwurf, der sich am russischen Vorbild orientierte, zurückgezogen. Das Regime in Moskau klagt, der Westen inszeniere in der Ukraine die nächste Farbenrevolution. Begleitet wird der Vorwurf von der kaum verhohlenen Drohung einer Intervention.

Währenddessen hört der Widerstand gegen das Mullah Regime in Iran nicht und nicht auf. Es gibt Demonstrationen, es gibt tausende Akte des Ungehorsams, es schaffen die Kleriker und ihre Schergen es nicht, das Land in Friedhofsruhe zu stürzen. Und in der Ukraine wird immer noch um Bakhmut gekämpft. Was als Demonstration russischer Macht gedacht war und binnen Tagen hätte erledigt sein sollen, ist dank des ukrainischen Widerstands zu einem Krieg geworden, der sogar das Auseinanderbrechen Russlands in den Bereich des Möglichen rückt.

Das alles sorgt für Nervosität. In Russland wie auch andernorts. Es treffen, auf Initiative Chinas, einander saudi-arabische und iranische Unterhändler, sie reden miteinander, sie entdecken gemeinsame Interessen. Im Angesicht einer möglichen demokratischen Revolution in Iran finden sunnitische und schiitische Hardliner schnell zu einer gemeinsamen Basis. Kein Wunder. China wiederum versichert Russland seiner Solidarität und wirft den USA vor, eine aggressive Politik zu verfolgen.

Es ist bemerkenswert. Vor drei Jahren erst wurden die Stärken der autoritären und diktatorischen Regime im Vergleich zu den demokratischen Gesellschaften hervorgehoben, besprochen, von manchen offensiv bewundert und als Auftakt des unweigerlichen Niedergangs des Westens interpretiert. Und jetzt das. Da nehmen ein Land und seine Menschen einen Krieg auf sich, um ihre mühsam erworbenen demokratischen Errungenschaften gegen einen Aggressor zu verteidigen. Da gehen in Iran Hunderttausende wieder und wieder und wieder auf die Straße, um für Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung und Menschenwürde einzustehen, auch mit ihren Leben und ihrer Gesundheit. Da strömen Tausende in Georgien auf die Plätze und Straßen der Hauptstadt, um einen Angriff auf ihr demokratisches System abzuwehren. Und in Belarus ringen immer noch Menschen allen Verfolgungen und Strafen zum Trotz darum, ein demokratisches Gemeinwesen zu erlangen.

Der Siegeszug des autoritären Staates, er kommt doch nicht so recht in Schwung. Im Gegenteil. Eine freie Ukraine stärkt die Opposition in Belarus und strahlt als Gegenentwurf zum Moskauer Modell bis tief nach Russland. Ein gefestigt demokratisches Georgien macht Russland als Ordnungsmacht im Kaukasus obsolet. Und ein demokratischer Iran stellt die Verhältnisse im Nahen Osten auf den Kopf, als die Religion als Machtfaktor entfiele. Im Grunde also müssten allen voran die europäischen Staaten und die Union alles tun, diese Bewegungen zu unterstützen. Und sei es nur, dass ihnen mehr Öffentlichkeit in Europa und damit in der Welt zuteil wird.

Hier nun hakt es. Europa unterstützt die Ukraine mit Waffensystemen, Munition und Ausbildung, mit humanitärer Hilfe und mit Geld. Vor allem aber steht Europa geeint gegen die russische Aggression. Das darf nicht gering geschätzt werden.

Geht es hingegen um Belarus, um Georgien, um Iran wird Europa leise. Sehr leise und wendet sich anderen Themen zu. Ganz so, als wüsste Europa mit all der Veränderung in seiner unmittelbaren Nachbarschaft nichts anzufangen.

Es braucht keine Intervention der EU, es braucht auch keine gutgemeinten Ratschläge, keine Bevormundung, kein Besserwissen, das von Europa aus an die Menschen in Iran, Georgien, Belarus und der Ukraine gerichtet wird. Aber es braucht die Aufmerksamkeit, die Rezeption dessen, was geschieht. Zu wissen, dass man nicht alleine gegen ein Regime steht, dass vielmehr die Augen der Welt auf eine Bewegung und ihre Menschen gerichtet sind, dass ihr Tun und Handeln ebenso gesehen und registriert werden wie das der Regime, gegen die sie sich wenden, ist essenziell.

Es bedarf dazu einer europäischen Standortbestimmung und klarer, unmissverständlicher Positionen gegenüber autoritären Regimen. Bei aller Diplomatie, bei aller Bereitschaft, strittige Punkte in Gesprächen zu behandeln, ist Eindeutigkeit unverzichtbar. Europa kann und darf seine Grundwerte der Menschenrechte und Menschenwürde nicht länger je nach Opportunität situationselastisch interpretieren. Das höhlt sie aus, entwertet sie und macht sie zur billigen Verhandlungsmasse.

Der Europäischen Union öffnet sich ein Fenster, sich selbst und ihre Beziehungen zu ihren Nachbarn substanziell neu zu definieren. Nach außen, indem die Union und ihre Mitgliedstaaten unmissverständlich für Grundrechte und -werte einstehen. Auch wenn das manchen Geschäftsbeziehungen nicht unbedingt zuträglich ist. Vor allem aber nach innen, indem Demokratie und die Werte der demokratischen Gesellschaften bewusst in aller Konsequenz gelebt werden. Das ist nicht immer einfach. Aber es ist grundnotwendig – auch gegenüber den Menschen in Iran, Georgien, Belarus und der Ukraine, die dafür ihre Leben einsetzen. (fksk, 12.03.23)

Woche 52 – Resilienz, Resistenz und Revolution

Woche 46 des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, von einer Winterpause ist weit und breit nichts zu sehen. Die Schlacht um Bakhmut dauert unvermindert heftig an, Russland intensiviert seine Raketen- und Bombenangriffe auf zivile Strukturen der Ukraine und in Deutschland sinniert derweil der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel über die moralische Pflicht des Angegriffenen Verhandlungen anzustreben.

Freiheitsdenkmal in Riga, Lettland © fksk

Des Juristen Überlegungen spiegeln zwar nicht die Mehrheitsmeinung in Deutschland, gleichwohl geben sie die anhaltende Unsicherheit Deutschlands und des Westens wieder, mit der neuen Weltlage mitten in Europa umzugehen. Wenngleich man sich nach zehn Monaten des russischen Vernichtungskriegs, nach zehn Monaten dokumentierter Verschleppungen, Morde, Vergewaltigungen und Folter, nach zehn Monaten Raub von Weizen und Kunst und zehn Monaten der Drohungen mit Nuklearschlägen, nicht mehr darüber unsicher sein sollte, wer in diesem Krieg uneingeschränkte Solidarität und Unterstützung verdient. Das freilich geht dem Eingeständnis einher, dass nichts mehr so sein wird, wie es die letzten 20, 30 Jahre bequemerweise war.

2022 markiert das Ende der langen europäischen Nachkriegszeit und den Beginn einer Zeit der Konfrontation und dicht an dicht gedrängter existenzieller Herausforderungen. Dabei zeichnen sich ausgerechnet im abgelaufenen Jahr drei Entwicklungen ab, die Mut machen:

Entgegen aller Erwartung erweisen sich die europäische Gesellschaft und Wirtschaft als widerstands- und anpassungsfähig. Die Verringerung der Abhängigkeit von russischem Gas und Erdöl geht rascher und mit geringeren wirtschaftlichen Einbußen vor sich, als prognostiziert. Unter Druck ist tiefgreifender Wandel möglich.

Zu dieser grundlegenden Resilienz gesellt sich sich die erfolgreiche Resistenz der Ukraine. Entgegen aller Erwartung war und ist das Land in der Lage, der russischen Invasion militärisch und gesellschaftlich zu widerstehen. Dem Hegemoniestreben Russlands über Europa sind damit erstmals Grenzen gesetzt worden. Und, entgegen aller Erwartung lassen sich die Iranerinnen und Iraner in ihrem Widerstand gegen das klerikale Regime nicht länger einschüchtern. Nach beinahe 45 Jahren stehen das Land und seine Menschen wieder vor einer Revolution, die, wenn sie denn erfolgreich ist, die Verhältnisse im Nahen Osten und darüber hinaus zum Tanzen bringen kann.

Dem in den letzten Jahren vielfach angestimmten Abgesang auf das Modell des demokratisch verfassten Westen stehen diese drei Faktoren des Jahres 2022 – Resilienz, Resistenz und Revolution – entgegen. Wofür in Iran und in der Ukraine Menschen kämpfen und mit ihrem Leben einstehen, das sind universelle Grund- und Menschenrechte, das sind Meinungsfreiheit, Glaubensfreiheit, Rechtstaatlichkeit und das Grundrecht auf politische Teilhabe, sprich Demokratie. Insofern rechtfertigt ausgerechnet 2022 einen optimistischen Blick in die Zukunft – wenn Europa denn bereit ist, konsequent für seine eigenen Grundwerte und Grundrechte einzustehen, nach innen wie nach außen. (fksk, 30.12.22)

Woche 18 – Europas Zeitfenster

Woche zehn. In Mariupol wird immer noch um das Stahlwerk gekämpft, ukrainische Truppen gehen bei Charkiv und Izium zum Gegenangriff über und die russische Schwarzmeerflotte verliert mit der Fregatte „Admiral Makarov“ ein weiteres Kampfschiff durch ukrainischen Beschuß. Während in Moskau die Vorbereitungen zur Siegesparade am 9. Mai anlaufen und weltweit darüber spekuliert wird, wie Putin diesen Tag nutzen wird, lädt Selenskij den deutschen Präsidenten Steinmeier und auch gleich noch Kanzler Scholz für denselben Tag nach Kiew. Auf die deutschen Panzer Gepard und die Panzerhaubitzen 2000 wird die Ukraine länger warten müssen. In Deutschland wie in Österreich diskutiert man unterdessen über den Brief der 28.  Und vergisst, dass sich die Welt nicht ausschließlich um deutsche und österreichische Befindlichkeiten dreht.

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Dieser Befund trifft freilich grosso modo auf die gesamte Europäische Union zu. Kommission und Parlament blicken gebannt in die Ukraine und arbeiten emsig an neuen Sanktionen, aber schon macht sich das übliche Abtauschen zwischen den 27 Regierungen wieder breit und bemerkbar. Es herrscht gewissermaßen wieder Alltag in all seiner Behäbigkeit.

Dabei besteht für Behäbigkeit kein Anlass. Das geeinte Auftreten des Westens gegenüber Russland ist allein der Tatsache geschuldet, dass Joe Biden US-Präsident ist, im Senat und Repräsentantenhaus (noch) die Mehrheit hat und die Antworten des westlichen Staatengemeinschaft klug dirigiert.

Die Frage ist nur, wie lange noch?

Im November finden die Midterms statt. Dass Senat und Repräsentantenhaus an die Republikaner fallen, ist nicht ausgemacht. Liegt aber im Bereich des Möglichen. Des sehr Möglichen. Für Biden bedeutete so ein Ausgang die totale Blockade durch den Kongress.

Und in zwei Jahren wählen die US-Bürger einen neuen Präsidenten. Und wieder ist es nicht ausgemacht, liegt aber im Bereich des Möglichen, dass Trump zum zweiten Mal in das Weiße Haus einzieht. Oder einer seiner Adepten.

Damit wäre der momentan vorherrschende transatlantische Konsens aller Wahrscheinlichkeit nach Geschichte. Und Europa, die Europäische Union, fände sich ohne Rückendeckung wieder. Vielmehr in einer Zwickmühle.

Man hat Tschetschenien weitgehend ausgeblendet, den Georgienkrieg 2008 klein geredet, den ersten Ukrainekrieg 2014 versucht, schnell wieder zu vergessen und war dann vom zweiten Ukrainekrieg und der Tatsache, dass Russland sich in einem allumfassenden Konflikt mit dem Westen sieht, auf das Höchste überrascht.

Nach demselben Muster droht die nächste Überraschung, wenn die USA sich aus Europa zurückziehen, über die Köpfe der EU hinweg Abmachungen mit Russland treffen, schlichtweg alle transatlantischen Stärken in den Kübel treten.

Es bleibt Europa nur ein kleines, eng bemessenes Zeitfenster, sich neben all den anderen Aufgaben, die dringlich sind, auf genau dieses Szenario einzustellen. Möglicherweise arbeiten ja tatsächlich in den vielen Thinktanks und Gremien, die sich in den 27 Hauptstädten tummeln, viele ausgewiesene Experten unermüdlich ohne Unterlass daran, für dieses Szenario gerüstet zu sein, den leeren Raum, der durch eine mögliche Abkehr der USA entsteht, durch die EU kraftvoll und kreativ zu füllen und zu nutzen. Möglicherweise arbeiten Kommission und Parlament längst schon und intensiv daran, die Außenpolitik der 27 zu einer Außenpoilitik aus einem Guß zu machen, legen die Fundamente für eine reibungslos und effizient funktionierende europäische Sicherheitsstruktur inklusive aller militärischen Kapazitäten und haben die Lösung und die Umsetzung, Europas Abhängigkeit von fossilen Energieträgern binnen kürzester Zeit auf ein absolutes Minimum zu reduzieren.

Joe Bidens Präsidentschaft ist ein Glücksfall für Europa. Gerade angesichts der russischen Aggression in der Ukraine. Es darf nur der Umstand, dass ein transatlantisch geprägter und auf Zusammenarbeit bedachter Joe Biden im Weißen Haus amtiert, nicht als gegeben angenommen werden. Schon Obama hatte klar zu verstehen gegeben, dass die Interessen der USA in Zukunft auf den pazifischen Raum fokussieren würden. Europa kann und darf sich nicht darauf verlassen, dass im Fall des Falles die USA in die Bresche springen. Vielmehr muss sich die Union mit Szenarien auseinandersetzen, in denen die USA nicht mehr nur ein ökonomischer Konkurrent, sondern auch ein politischer Gegner sein können. Die Zeitenwende, die der deutsche Kanzler im Februar im Bundestag beschworen hat, diese Zeitenwende wird viel an Überraschungen parat halten. Nur, sich nochmals davon überraschen zu lassen, dass die USA einen anderen Weg als Europa einschlagen, das ist selbst im Rahmen der Unwägbarkeiten dieser Zeitenwende keine Option.

Der Krieg in der Ukraine, das besondere Gewicht der USA und ihre innere Verfasstheit, sollten Grund genug dafür sein, die Union rasch wetterfest zu machen. Nicht allein als ökonomischen Block, sondern gerade als politischen Machtfaktor, der in der Lage ist, seine Interessen auf dem eigenen Kontinent und in der Welt auch ohne US-amerikanische Unterstützung zu vertreten. Im Fall des Falles sogar gegen US-Interessen.

Die Zeit drängt. (fksk, 08.05.22)

Woche 08 – Die Ukraine ist nur der Anfang

Das Gute an Vladimir Putin ist, er lässt keinen Zweifel mehr über seine Ziele zu. Das ist die Wiederherstellung von Russlands Glanz und Gloria, das ist die Dominanz über all jene Gebiete, über die die Sowjetunion verfügte, das ist letztlich die unangefochtene Dominanz in Europa. Und es ist sein unbedingter Wille, alle Mittel einzusetzen, diese Ziele zu erreichen. Auch sein atomares Arsenal. Diese Drohung steht im Raum.

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Damit entlässt Putin all seine Verteidiger und Versteher in den westlichen Staaten. Er entzieht ihnen ihre Grundlage, die da war, dass man mit dem Mann doch reden kann, dass auch Russland gute Argumente gegenüber der Ukraine hätte. Im Verlauf der letzten Wochen hat Putin wieder und wieder und unmissverständlich klargemacht, dass es für ihn nur eine Art gibt, den Frieden in Europa zu wahren: die Unterwerfung der Ukraine ohne wenn und aber.

Er hat klargemacht, dass ihm alle internationalen Verträge und Vereinbarungen nichts gelten, wenn sie seinen Intentionen widersprechen. Und er hat sich nicht einmal gewunden dabei. Er hat nicht versucht, sein Ansinnen, die europäische Nachkriegsordnung einzureissen, in diplomatische Zuckerwatte zu verpacken.

Wer Ohren hat, zu hören, wer Augen hat, zu lesen, wusste, was Sache ist.

Bemerkenswert ist nur, mit welcher Konsequenz quer durch Europa und auch die USA, diese Offenheit ausgeblendet wurde.

Jetzt fallen Bomben auf Kiew, Odessa, Charkiw, Kramatorsk, Mariupol und selbst auf Lwiw/Lwow/Lemberg, werden Ziele im ganzen Land mit Raketen beschossen, dringen russische – und belarussische – Verbände in die Ukraine ein.

Die Invasion ist der Beginn. Es ist eine Machtdemonstration, die sich an alle europäischen Staaten richtet: Wer sich nicht beugt, hat mit Konsequenzen zu rechnen. Auch darin ist Putin schonungslos offen.

Polen, Estland, Lettland und Litauen aber auch Finnland und Schweden haben diese Botschaft wesentlich früher verstanden (Polen und seine baltischen Nachbarn vor Jahren schon). Heute muss diese Botschaft auch in allen anderen Ländern der Union – und darüber hinaus – verstanden werden. Mit Putins Russland sind Vereinbarungen das Papier, auf dem sie geschrieben sind, nicht wert. Wer sich noch in der Illusion wiegt, man könne mit einem Aggressor ein gedeihliches Auskommen finden, braucht lediglich auf die Ukraine zu blicken. Das ist, was Putin für den Rest Europas bereithält.

Er ist darin ganz offen.

Europa muss es auch sein. Die Zeit der Zwei- und Mehrdeutigkeiten ist in den frühen Morgenstunden des 24. Februar 2022 von den russischen Invasoren ausgelöscht worden. (fksk, 24.02.22)

Woche 37 – Die lieben Nachbarn

Acht Wochen noch, dann sind die US-Präsidentschaftswahlen geschlagen. Ob sie entschieden sein werden, steht dahin. Acht Wochen noch, während derer das Stakkato an Tweets, Schlagzeilen, Auf- und Erregung sich täglich noch mehr steigern wird. Acht Wochen, in denen es nicht mehr um das Überzeugen oder die Macht des besseren Arguments gehen wird, als vielmehr darum, die eigenen Wähler zu mobilisieren. Auf Teufel komm raus.

© envision film, Susanne Brandstätter

© envision film, Susanne Brandstätter

Donnerstag abends, Wien. Im Metro Kino läuft „This Land Is My Land“ von Susanne Brandstätter. Ein bemerkenswerter Film. Brandstätter, in den USA geboren und aufgewachsen, seit Jahrzehnten in Europa beheimatet, sucht Trump Wähler auf. Zu seiner Amtseinführung, zu den ersten hundert Tagen im Amt und dann noch einmal, 2018, zu den Midterm Elections.

Sie lässt sie reden. Erklären, weshalb sie diesen Mann nicht nur gewählt haben, vielmehr weshalb sie ihm so sehr vertrauen. Brandstätter hört zu, die Kamera zeichnet auf, weshalb auch das Publikum nicht anders kann, als zuzuhören und zu sehen.

Es ist alles vertraut. Die Menschen, die Brandstätter im Swingstate Ohio aufsucht, diese Menschen gibt es exakt so hier in Europa, in Österreich, Deutschland, Frankreich, Portugal und Schweden. Es sind unsere Nachbarn. Keine monströsen Gestalten, keine Karikaturen.

Vor allem, sie meinen es ehrlich. Es eint sie das über lange Zeit gewachsene Gefühl, dass diesem Land etwas verloren gegangen ist. Die Einheit. Die Sicherheit geordneter Verhältnisse. Dass das, was ihnen wichtig war und ist nicht nur in Frage gestellt, sondern in Abrede gestellt wird. Hillary Clinton hat sie einmal als „Deplorables“ bezeichnet. Sie hat das nicht im Sinne von „bedauernswert“ oder „beklagenswert“ gemeint als vielmehr im Sinne von „elend“, „kläglich“, von „erbärmlich“.

© envision film, Susanne Brandstätter

© envision film, Susanne Brandstätter

Susanne Brandstätter hingegen versucht zu verstehen. „Meine goldene Regel war: Streite nicht, höre zu. Eine Regel, an die ich mich gehalten habe – obwohl es oft nicht einfach war“, hält sie fest. „In meinem Versuch zu verstehen, warum diese Wähler für Trump waren, lernte ich sie auch kennen – ich tauschte mich mit unseren Protagonistinnen und Protagonisten aus und begann sie zu verstehen.

Dann passierte etwas Seltsames: Ich fing an, unsere Protagonisten zu mögen.“

Corona hat verhindert, dass Brandstätter dieses Jahr nochmals nach Ohio reisen konnte. Dennoch steht sie mit den meisten ihrer Gesprächspartner in Kontakt. Via Mail, via Skype. Bis auf einen jungen Mann werden sie wieder für Trump stimmen.

Im November vor vier Jahren soll Joe Biden zu Barack Obama gesagt haben, es wäre besser gewesen, er hätte anstelle von Hillary Clinton kandidiert. Regular Joe gegen The Donald. Er, Biden, hätte besser mobilisiert, die enttäuschten, tendenziell konservativeren Anhänger der Demokraten, die Arbeiter im Rust Belt, all jene, die in der Wahl zwischen Clinton und Trump die Wahl zwischen Pest und Cholera sahen, der sie sich durch ihr Fernbleiben von der Urne entzogen. Mit bekannten Folgen.

Donald Trump genießt unter seinen Anhängern ungebrochen Vertrauen und Zuspruch. Daran ändert seine Politik nichts und auch nicht seine erratischen Auftritte, seine Twittertiraden. Zustimmung und Ablehnung haben sich in den letzten vier Jahren nur marginal verändert. Wen Trump bis heute nicht überzeugt hat, den wird er nicht mehr überzeugen. Gleiches gilt für Biden.

Alles, worum es jetzt geht, ist die Mobilisierung der Indifferenten, der Zögerlichen, jener, die 2016 nicht zur Wahl gegangen sind in den Swing States, in denen wenige tausend Stimmen über die Präsidentschaft entscheiden. Es wird laut werden und schrill in diesen Bundestaaten und weit darüber hinaus.

Viel schriller als es auch den Protagonisten in „This Land Is My Land“ lieb ist. Eigentlich wünschen sie sich einen Präsidenten, eine Politik, die wieder vereint, die Brücken baut und Gräben, tiefe Gräben, überwindet. Einfach, indem man einander wieder zuhört, ohne vorab zu urteilen.

„Das bedeutet nicht“, so Brandstätter, „dass wir nachgeben müssen, wenn es um Streitpunkte geht, die für uns wichtig sind – oder, dass wir unsere Grundwerte in Frage stellen. Aber es bedeutet, dass wir lernen mit der anderen Seite zu kommunizieren – dass wir mit den Ursachen unserer Spaltung lernen umzugehen, anstatt sie nur zu verdrängen.“

Das gilt für die USA wie es für die europäischen Demokratien gilt. (fksk, 12.09.20)

 

„This Land Is My Land“ ist derzeit in Kinos in ganz Österreich zu sehen. Informationen unter thislandismyland-film.com