Zivilisation

Woche 46 – Es geht um viel. Es geht um alles

Es geht um die Existenz. Um jene Israels und der Ukraine als demokratische Staaten und Gesellschaften, frei von äußerer Bedrohung. Der 7. Oktober 23 und der 24. Februar 22 markieren zwei Einschnitte, die tiefer und schmerzvoller nicht sein könnten. Zuallererst für Israel und die Ukraine, für die es in letzter Konsequenz um Sein oder Nichtsein geht. Es geht aber auch, und das ist wesentlich, um die Existenz des Westens, insbesondere Europas, als wertebasierter Kultur.

© Marek Studizinski / unsplash.com

Russlands Krieg, der im Februar 22 nach dem Osten der Ukraine und der Krim nun auch Kyiv und das ganze Land zum Ziel hatte, war und ist auch ein Vernichtungsfeldzug gegen die europäische Friedensordnung, die europäische Einigung, das internationale Völkerrecht und gegen die Prinzipien des Universalismus. Der Pogrom der Hamas war und ist auch eine Attacke auf liberale, offene, der Menschenwürde verpflichtete Gesellschaften, wie sie der Westen zu leben anstrebt.

An Angriffen auf westliche Prinzipien, gegen die Idee des Westens hat es im Laufe der Geschichte nicht gefehlt. Trotzdem unterscheidet sich aktuelle Lage grundlegend von allen Herausforderungen seit 1945. Es geht darum, ob die westlichen Gesellschaften in aller Konsequenz bereit sind, für ihre Grundwerte einzustehen, dafür Konflikten nicht aus dem Weg zu gehen und gegenüber autoritären Regimen und totalitären Ideologien klare Grenzen zu benennen. Oder, ob sie versuchen, sich des lieben Friedens und der guten Geschäfte wegen und auch weil man sich gegenüber der Welt schuldig gemacht hat, mit Kompromissen Zeit zu erkaufen. Um letztlich doch klein beizugeben.

Es geht bei dieser notwendigen Standortbestimmung um mehr als um Waffenlieferungen, wohlfeile Solidaritätsadressen und freundliche Worte in Essays, auf Symposien und Demonstrationen. Es geht um des Westens Wesenskern.

Es müssen die Grundlagen wieder definiert werden, die notwendig für den gesellschaftlichen Aufbau und Zusammenhalt sind. Es muss Konsens darüber bestehen, was die westlichen Gesellschaften ausmacht, was sie von anderen, von totalitären, autoritären, faschistischen, kommunistischen Regimen und sogenannten illiberalen Demokratien glasklar unterscheidet.

Dieser Prozess ist schon im Gange. Er hat im Grunde noch vor Russlands grünen Männchen auf der Krim im Jahr 2014 begonnen, wenngleich zaghaft nur und gleichsam subkutan.

Der Februar 22 indes markiert eine tektonische Verschiebung, die nicht mehr ignoriert werden kann. Selbst wenn die Debatte zäh vonstatten geht, wenn sie lahmt und bisweilen lähmt, wenn sie teilweise in eine Generalanklage gegen den Westen mündet, der seine Vorherrschaft mit allen Mitteln zu sichern trachte, worunter der Globale Süden leide (zu dem dann auch China und Russland gezählt werden), diese Debatte ist mitsamt ihren Nebensträngen und regionalen Ausprägungen nicht mehr aus der Welt zu schaffen.

Was lange schwelt wird jetzt akut. Der Oktober 23 markiert eine weitere tektonische Erschütterung, als es nun dringend um die Frage geht, wie die Menschen in einer westlich geprägten, demokratisch verfassten Gesellschaft zusammenleben wollen, was diese Gesellschaften ausmacht – von den Rechten der Frauen bis hin zu jenen ethnischer, religiöser und sexueller Minderheiten. Und wie mit jenen zu verfahren ist, die die Prinzipien der offenen Gesellschaft zugunsten einer anderen, ihrer Ordnung bekämpfen, mit jenen, die ein Kalifat in Deutschland fordern und mit jenen, die sich am Kampf gegen vermeintlich verschworene Eliten und das System berauschen.

Es müssen der Westen und Europa, zu einer klaren, unmissverständlichen Sprache finden. Selbst wenn das bedeutet, dass es schmerzt. Und das wird es.

Denn nun muss benannt werden, was zu lange vage nur und nach Möglichkeit freundlich, keinesfalls verletzend umschrieben wurde. Wer etwa in Europa Asyl sucht oder auch nur eine neue Heimat, die Perspektiven bietet, muss die Prinzipien und die Herausforderungen einer offenen und pluralen Gesellschaft akzeptieren, kann sich und seine Ansichten und Glaubenssachen nicht über das Gesetz stellen. So wenig wie sich jeder andere über die Rechtsordnung stellen kann. Vor dem Gesetz sind alle Bürger gleich. Dieser Grundsatz gilt uneingeschränkt und ausnahmslos.

Lange, viel zu lange war der Westen der Überzeugung, dass sich alle Welt letztlich nach seinem Vorbild formen werde. Dass auf Handel notwendigerweise Wandel folgen werde. Dass Konfrontation durch Kooperation ersetzt und diese bunte, freundliche Weltzivilisation sich einfach ohne weiteres Zutun ergeben werde. Dass es keiner intellektuell anstrengenden Argumentationen mehr bedürfe als vielmehr gelungenem Marketings.

Welch ein Irrtum. Längst schon werden Grundwerte des Westens gegen ihn ins Feld geführt, wird der Universalismus als (post)koloniales Projekt verleumdet, wird eine regelbasierte globale Ordnung als perfides Instrument westlicher Vorherrschaft gebrandmarkt, wird die parlamentarische Demokratie als abgehobenes Elitenprojekt dargestellt. Und alles das wird nicht etwa nur von außen in den Westen hineingetragen, es kommt auch aus seinem Innersten. Von links bis rechts wird die westliche Zivilisation nicht nur radikal in Frage gestellt, sie wird zusehend von einer absurd scheinenden Koalition, die von Corbyn und Melenchon über Orban und Kickl bis hin zu Trump reicht, bis aufs Äußerste bekämpft.

Mit Russlands Krieg gegen die Ukraine und dem – anhaltenden – Terror der Hamas gegen Israel erfährt diese Entwicklung nun eine Beschleunigung. Innerhalb der westlichen Gesellschaften brechen bislang undenkbare, in ihrer Vehemenz unerwartet heftige Konflikte auf. Einerlei, ob es die Liebe und Treue der extremen Rechten (und vieler Linker) zur Herrschaft Putins oder die Liebe und Treue der extremen Linken (und vieler Rechter) zur islamistischen Hamas ist, beides wendet sich explizit und unumwunden gegen den Westen, gegen Europa.

Dem gilt es sich zu stellen und die Chance mit Lust und Verve und Lebensfreude zu nutzen, Werte, Prinzipien und Ziele der westlichen Zivilisation zu beleben, zu leben, sie wo immer notwendig weiterzuentwickeln und zu stärken und auch damit Israel und der Ukraine tatkräftig zur Seite zu stehen. Konsequent und robust. Es geht um viel. Es geht um alles. (fksk, 19.11.23)