Hamas

Woche 49 – Demaskierter Kontext

Da saßen sie, drei Präsidentinnen dreier US-amerikanischer Universitäten, Penn, Harvard und MIT, und sorgten für Empörung. Auf die Frage, ob der Aufruf zum Genozid an Juden in Widerspruch zum Regelwerk ihrer Institutionen stehe, antworteten sie nicht mit ja oder nein, sie verwiesen auf Kontext, der zu beachten sei.

©John Noonan/unsplash.com

Als ob es einen Kontext gäbe, der den Aufruf zum Genozid an wem auch immer rechtfertigen könnte.

Es sei eine juristische Abwägung der drei Präsidentinnen gewesen, die sie nicht mit ja oder nein habe antworten lassen können, merken manche Juristen nun an und verweisen auf die in der US-Verfassung verankerte Freiheit der Rede und Meinung, die ungleich weiter und radikaler ausgelegt wird als in europäischen Landen. Mithin hätten die drei gar nicht anders können, als auf eine genaue Abwägung aller Umstände hinzuweisen, bevor sie und ihre Institutionen sich der Verletzung der Verfassung schuldig machten.

Tags darauf schieben alle drei Erklärungen nach, in denen sie jeden Aufruf zu Gewalt gegen Juden als inakzeptabel und mit den Werten ihrer Universitäten als unvereinbar bezeichnen. Ein Trauerspiel.

Eines, das in den Diskussionen und treibenden Ideen rund um Postkolonialismus und Dekonstruktivismus der letzten Jahrzehnte wurzelt.

Was als essenzieller Beitrag zur erweiterten Sicht und zum Begreifen der Welt bereits in den 50er Jahren formuliert wurde und mit Edward Saids „Orientialism“ 1978 endgültig Eingang in die Debatte und das Denken fand, der Postkolonialismus, ist mittlerweile zu einem starren Dogma geronnen. Freilich zu einem Dogma, das sich großer Sympathie erfreut, als es Eindeutigkeiten vorgaukelt, die nicht sind; das eine Bequemlichkeit des Denkens ermöglicht, frei von historischen Hintergründen und damit frei von Vieldeutigkeit.

Schuld trägt an allem der Westen.

Schuld tragen die Weißen.

Opfer ist der Globale Süden.

Opfer sind People of Colour.

Immer und überall. Ausnahmslos.

So löst sich Geschichte auf und wird ersetzt durch simplizistische Schwarz-Weiß-Wahrnehmung.

Dass es 1948 einen Teilungsplan für einen jüdischen und einen arabischen Staat gab, den die Araber ablehnten, stattdessen einen Auslöschungskrieg starteten – das spielt keine Rolle, das wird nicht gewusst.

Dass die arabischen Staaten nach 1948 ihre jüdischen Bürger unter dem Hinweis, es gäbe ja nun Israel, vertrieben und sich ihres Hab und Guts bemächtigten, dass uralte jüdische Gemeinden in Bagdad, Damaskus, in Kairo und Tunis gleichsam über Nacht aufhörten zu existieren – das wird ignoriert.

Dass die arabischen Staaten die palästinensischen Flüchtlinge nicht integrierten, ihnen niemals irgendeine Perspektive, als jene der Rückkehr in das angestammte Land in irgendeiner fernen Zukunft, zugestanden – das spielt keine Rolle.

Dass bessere Lebensumstände der Palästinenser wesentlich an der tiefsitzenden Korruption der palästinensischen Autonomiebehörde scheitern – das wird nicht einmal ignoriert.

Und dass die Terrorbande Hamas als regierende Gewalt in Gaza ausnahmslos gegen alle Pflichten zum Schutz der eigenen Bevölkerung verstößt, sie ignoriert und bewusst verletzt – das wird als Schuld Israel zugewiesen.

Das aber alles ist Kontext. Ist jener Kontext, ist jener Hintergrund, der zu wissen notwendig ist, um die Dimensionen des israelisch-arabischen Konflikts auch nur in Umrissen zu erahnen. So, wie es unerlässlich ist, die Rolle der Siedlerbewegung, ihre andauernden Übergriffe gegen die arabische Bevölkerung im Westjordanland einzuordnen, die Rechtsradikalen Israels, die Jichzak Rabin ermordeten, die heute in der Regierung vertreten sind und Israels Demokratie zu demontieren suchen. Auch das sind Facetten, die zu wissen not tut. Und an Facetten mangelt es hier nicht. An ihnen mangelt es nie, an keinem Ort der Welt, zu keiner Zeit und in keiner Situation.

In einer Welt, reich an Komplexität, suggerieren Dogmen Sicherheit. Es sind nicht allein die Unterstützer der Palästinenser und der Hamas, die nach ahistorischer Sicherheit gieren und sie sich auf die Fahnen heften. Die Sicherheit auf Basis eines dichotomischen Geschichtsverständnisses ist weit verbreitet. Auch und gerade in Angelegenheiten gerechter Anliegen.

Es steht außer Frage, dass Europa gut daran tut, sich mit seiner kolonialen Vergangenheit auseinanderzusetzen und sich dabei auf andere Sichtweisen einzulassen. Auf jene des Kongo etwa, wo im späten 19. Jahrhundert ein Verbrechen stattfand, das in seiner Grausamkeit, Menschenverachtung und gnadenlosen Exekution der Shoa den Weg bereitet hat und insofern zu Recht mit der Shoa, dem Holodomor, den Killing Fields von Kambodscha und der chinesischen Kulturrevolution in einem Atemzug genannt werden kann. Genannt werden muss.

Aus Geschichtskenntnis erwächst Verantwortung.

Die Propagandisten des dogmatischen Postkolonialismus indes interessiert Geschichte nicht. Für sie existiert allein der Kontext europäischer Schuld, aus dem es für den Westen und alle, die mit ihm gleichgesetzt werden, kein Entrinnen gibt. Es sei denn um den Preis der Selbstaufgabe.

Das ist die Klaviatur, die von den Terroristen der Hamas über alle ihre Propagandakanäle hinweg virtuos bedient wird, in harmonischem Zusammenspiel mit Russlands Putin, mit dem klerikalfaschistischem Regime des Iran und ihren Sympathisanten aus Politik, Kultur und Wissenschaft des Westens. Gemeinsam bündeln sie ihre Kräfte gegen den Westen und alles, was ihn definiert. Seine universellen Werte, seine Idee einer demokratischen Gesellschaft, einer allgemein gültigen Rechtsordnung, seiner Fähigkeit, Widerspruch und Gegensätze als Notwendigkeit einer liberalen, offenen Gesellschaft zu begreifen und daraus neue Perspektiven zu gewinnen.

Das alles steht in absolutem Widerspruch zu den autoritären und totalitären Modellen, die sich als die Vertreter des geknechteten Globalen Südens ausgeben. Die in ihren haltungsbesoffenen, dogmatischen europäischen und amerikanischen Sympathisanten geschichtsaverse und daher umso so nützlichere Idioten und Verbündete finden. Insofern ist den drei Präsidentinnen für ihren Auftritt zu danken. Er war demaskierend. (fksk, 10.12.23)

Woche 46 – Es geht um viel. Es geht um alles

Es geht um die Existenz. Um jene Israels und der Ukraine als demokratische Staaten und Gesellschaften, frei von äußerer Bedrohung. Der 7. Oktober 23 und der 24. Februar 22 markieren zwei Einschnitte, die tiefer und schmerzvoller nicht sein könnten. Zuallererst für Israel und die Ukraine, für die es in letzter Konsequenz um Sein oder Nichtsein geht. Es geht aber auch, und das ist wesentlich, um die Existenz des Westens, insbesondere Europas, als wertebasierter Kultur.

© Marek Studizinski / unsplash.com

Russlands Krieg, der im Februar 22 nach dem Osten der Ukraine und der Krim nun auch Kyiv und das ganze Land zum Ziel hatte, war und ist auch ein Vernichtungsfeldzug gegen die europäische Friedensordnung, die europäische Einigung, das internationale Völkerrecht und gegen die Prinzipien des Universalismus. Der Pogrom der Hamas war und ist auch eine Attacke auf liberale, offene, der Menschenwürde verpflichtete Gesellschaften, wie sie der Westen zu leben anstrebt.

An Angriffen auf westliche Prinzipien, gegen die Idee des Westens hat es im Laufe der Geschichte nicht gefehlt. Trotzdem unterscheidet sich aktuelle Lage grundlegend von allen Herausforderungen seit 1945. Es geht darum, ob die westlichen Gesellschaften in aller Konsequenz bereit sind, für ihre Grundwerte einzustehen, dafür Konflikten nicht aus dem Weg zu gehen und gegenüber autoritären Regimen und totalitären Ideologien klare Grenzen zu benennen. Oder, ob sie versuchen, sich des lieben Friedens und der guten Geschäfte wegen und auch weil man sich gegenüber der Welt schuldig gemacht hat, mit Kompromissen Zeit zu erkaufen. Um letztlich doch klein beizugeben.

Es geht bei dieser notwendigen Standortbestimmung um mehr als um Waffenlieferungen, wohlfeile Solidaritätsadressen und freundliche Worte in Essays, auf Symposien und Demonstrationen. Es geht um des Westens Wesenskern.

Es müssen die Grundlagen wieder definiert werden, die notwendig für den gesellschaftlichen Aufbau und Zusammenhalt sind. Es muss Konsens darüber bestehen, was die westlichen Gesellschaften ausmacht, was sie von anderen, von totalitären, autoritären, faschistischen, kommunistischen Regimen und sogenannten illiberalen Demokratien glasklar unterscheidet.

Dieser Prozess ist schon im Gange. Er hat im Grunde noch vor Russlands grünen Männchen auf der Krim im Jahr 2014 begonnen, wenngleich zaghaft nur und gleichsam subkutan.

Der Februar 22 indes markiert eine tektonische Verschiebung, die nicht mehr ignoriert werden kann. Selbst wenn die Debatte zäh vonstatten geht, wenn sie lahmt und bisweilen lähmt, wenn sie teilweise in eine Generalanklage gegen den Westen mündet, der seine Vorherrschaft mit allen Mitteln zu sichern trachte, worunter der Globale Süden leide (zu dem dann auch China und Russland gezählt werden), diese Debatte ist mitsamt ihren Nebensträngen und regionalen Ausprägungen nicht mehr aus der Welt zu schaffen.

Was lange schwelt wird jetzt akut. Der Oktober 23 markiert eine weitere tektonische Erschütterung, als es nun dringend um die Frage geht, wie die Menschen in einer westlich geprägten, demokratisch verfassten Gesellschaft zusammenleben wollen, was diese Gesellschaften ausmacht – von den Rechten der Frauen bis hin zu jenen ethnischer, religiöser und sexueller Minderheiten. Und wie mit jenen zu verfahren ist, die die Prinzipien der offenen Gesellschaft zugunsten einer anderen, ihrer Ordnung bekämpfen, mit jenen, die ein Kalifat in Deutschland fordern und mit jenen, die sich am Kampf gegen vermeintlich verschworene Eliten und das System berauschen.

Es müssen der Westen und Europa, zu einer klaren, unmissverständlichen Sprache finden. Selbst wenn das bedeutet, dass es schmerzt. Und das wird es.

Denn nun muss benannt werden, was zu lange vage nur und nach Möglichkeit freundlich, keinesfalls verletzend umschrieben wurde. Wer etwa in Europa Asyl sucht oder auch nur eine neue Heimat, die Perspektiven bietet, muss die Prinzipien und die Herausforderungen einer offenen und pluralen Gesellschaft akzeptieren, kann sich und seine Ansichten und Glaubenssachen nicht über das Gesetz stellen. So wenig wie sich jeder andere über die Rechtsordnung stellen kann. Vor dem Gesetz sind alle Bürger gleich. Dieser Grundsatz gilt uneingeschränkt und ausnahmslos.

Lange, viel zu lange war der Westen der Überzeugung, dass sich alle Welt letztlich nach seinem Vorbild formen werde. Dass auf Handel notwendigerweise Wandel folgen werde. Dass Konfrontation durch Kooperation ersetzt und diese bunte, freundliche Weltzivilisation sich einfach ohne weiteres Zutun ergeben werde. Dass es keiner intellektuell anstrengenden Argumentationen mehr bedürfe als vielmehr gelungenem Marketings.

Welch ein Irrtum. Längst schon werden Grundwerte des Westens gegen ihn ins Feld geführt, wird der Universalismus als (post)koloniales Projekt verleumdet, wird eine regelbasierte globale Ordnung als perfides Instrument westlicher Vorherrschaft gebrandmarkt, wird die parlamentarische Demokratie als abgehobenes Elitenprojekt dargestellt. Und alles das wird nicht etwa nur von außen in den Westen hineingetragen, es kommt auch aus seinem Innersten. Von links bis rechts wird die westliche Zivilisation nicht nur radikal in Frage gestellt, sie wird zusehend von einer absurd scheinenden Koalition, die von Corbyn und Melenchon über Orban und Kickl bis hin zu Trump reicht, bis aufs Äußerste bekämpft.

Mit Russlands Krieg gegen die Ukraine und dem – anhaltenden – Terror der Hamas gegen Israel erfährt diese Entwicklung nun eine Beschleunigung. Innerhalb der westlichen Gesellschaften brechen bislang undenkbare, in ihrer Vehemenz unerwartet heftige Konflikte auf. Einerlei, ob es die Liebe und Treue der extremen Rechten (und vieler Linker) zur Herrschaft Putins oder die Liebe und Treue der extremen Linken (und vieler Rechter) zur islamistischen Hamas ist, beides wendet sich explizit und unumwunden gegen den Westen, gegen Europa.

Dem gilt es sich zu stellen und die Chance mit Lust und Verve und Lebensfreude zu nutzen, Werte, Prinzipien und Ziele der westlichen Zivilisation zu beleben, zu leben, sie wo immer notwendig weiterzuentwickeln und zu stärken und auch damit Israel und der Ukraine tatkräftig zur Seite zu stehen. Konsequent und robust. Es geht um viel. Es geht um alles. (fksk, 19.11.23)

Woche 43 – Politik ohne Grundlage

Es soll, so Estlands Premierministerin Kaja Kallas in einem Interview, der österreichische Kanzler Karl Nehammer ihr gegenüber festgehalten haben, dass Russland seine Verpflichtungen gegenüber Österreich stets eingehalten hätte. Nun gibt es Verpflichtungen und Verpflichtungen, solche, die bilateral abgeschlossen werden und solche, auf denen etwa eine internationale Ordnung beruht, die mithin eine Vielzahl an Partnern umfasst, die dadurch den Einzelstaat in ein größeres Ganzes einbettet.

© Yaopey Yong/unsplash.com

Die europäische Nachkriegsordnung sowie die Ordnung nach 1989, von der Schlussakte von Helsinki 1977 bis hin zum Budapester Memorandum 1994 sind allumfassende Vertragswerke. Das Memorandum, in dem die Ukraine ihr Atomwaffenarsenal gegen die Zusicherung sicherer Grenzen abgibt, ist eines, das in seiner Bedeutung weit über die Signatarstaaten hinausgreift und damit auch ein Land wie Österreich wenigstens mittelbar betrifft. Umso mehr, wenn das Abkommen, das Papier nicht wert ist, auf dem es geschrieben steht.

Spätestens mit dem 24. Februar 2022 hat Russland unverholen gezeigt, was es von der europäischen Ordnung, von ihren Prinzipien und Übereinkünften hält: nichts. Insofern hat Russland sehr wohl und massiv gegen grundlegende Verträge, an denen Österreich als Vertragspartner höchstes Interesse hat, gebrochen. Dieser Umstand sollte dem Kanzler sehr wohl bewusst sein. Er sollte ihn in Worte und in Politik fassen können.

Stattdessen gewinnt man den Eindruck, die Regierung in Wien hoffe nach wie vor, dass der russische Krieg gegen die Ukraine sich irgendwie auflösen ließe, wenn schon nicht in Wohlgefallen dann wenigstens in einem wie auch immer gearteten Zustand des Nichtkrieges, der es Österreich und anderen ermöglicht, zur Vorkriegspolitik zurückzukehren.

Allein, ein Zurück ist nicht möglich. Der 24. Februar 2022, die Massaker von Butscha und Irpin, die Folter, die Vergewaltigungen, die Entführungen, der nackte Terror, den die russische Kriegsführung gegen die ukrainische Zivilbevölkerung von der Leine gelassen hat, die Großmachtbestrebungen des Moskauer Regimes, seine glasklare Absage an die Kultur und die Werte des Westens, seine offen demonstrierte Kumpanei mit diktatorischen Regimen wie Nordkorea, sein freundlicher Empfang der Gesandten der Terrororganisation Hamas, seine gemeinsamen Interessen mit dem fundamentalistischen Mullah Regime in Iran, das alles ist ein Bruch aller Vereinbarungen und Verpflichtungen, die Russland je mit den Ländern des Westens, insbesondere Europas, eingegangen ist. Also auch mit Österreich. Dieser Bruch ändert alles.

Dass diese Einsicht in Österreich nicht wohlgelitten ist, ist kein Geheimnis. Eine wahrhaft große Koalition von ehemaligen bis hin zu aktiven Politikern, von Sozialdemokraten, Volkspartei und Freiheitlichen in Bund und Ländern will alles, nur den Bruch nicht wahrnehmen. Und wenn, dann bitte als einen Bruch zwischen zwei Systemen, den man – wie weiland Kreisky – überbrücken müsse (die Wahrnehmung Kreiskys als genialer Weltpolitiker ist ein weiteres Mysterium Österreichs).

Die österreichische Lösung liegt mithin nicht in einer auf Gegenwart und Zukunft ausgerichteten Politik, sie liegt in der Besinnung auf eine Vergangenheit, deren Rahmenbedingungen Putin indes gezielt, gewaltsam und aus freien Stücken zerstört hat. Es wird in Wiens politischen Kreisen also konsequent Politik gedacht, die jeder realen Grundlage entbehrt. So erklärt sich denn auch Nehammers Kommentar gegenüber Kallas. Zuversichtlich stimmt das nicht. (fksk, 29.10.23)