Putin

Woche 03 – Putin macht Schule

Das klingt vertraut: Erewan sei, betonte unlängst Aserbeidschans Präsident Alijew, von alters her und also immer schon aserbeidschanisches Territorium und Siedlungsgebiet. Dass die Stadt, noch dazu als Hauptstadt, armenisch ist, das verdanke sich nur einem dummen Zufall aus den frühen Tagen der Sowjetunion. So klang Alijew bereits 2018. Jetzt hat er es wieder in den Raum gestellt. Diesmal nach militärischen Erfolgen und im Schatten des russischen Kriegs in der Ukraine.

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Putins Beispiel macht Schule.

Als die russische Armee vor bald zwei Jahren alle Grenzen überschritt und nach der Krim und dem Donbass 2014 auf breiter Front in die Ukraine einfiel, setzte Moskau damit ein Exempel. Die internationale Ordnung, nach 1945 geschaffen auf Basis völkerrechtlicher Verträge und Verpflichtungen, ein System, dazu gedacht, Konflikte und Kriege hintanzuhalten, all das gilt nichts mehr. Allenfalls gelten sie als Instrumente des perfiden Westens zur Unterdrückung der Welt. Das ist ein unverhohlenes Signal an autoritäre Machthaber in anderen Weltgegenden, sich zu holen, was ihnen ins Auge sticht.

Die rohstoffreichen Regionen Guyanas etwa, auf die Venezuela Anspruch erhebt, abgesichert durch ein Referendum, in dem dieser Anspruch unter der eigenen Bevölkerung abgefragt wurde. Was die Bevölkerung in Guyana dazu zu sagen hätte, interessiert in Caracas nicht.

In Belgrad spitzt Präsident Vucic seit Monaten schon Sprache und Politik gegenüber dem Kosovo zu. Die serbische Armee wird aufgerüstet, um zu gegebenem Zeitpunkt der Unabhängigkeit der einstigen Provinz ein gewaltsames Ende zu bereiten und wohl auch der Eigenständigkeit Montenegros. Parallel dazu erhöht der Präsident des bosnisch-herzegowinischen Kantons Republika Srpska, Herr Dodik, die regionalen Spannungen und stellt die Vereinigung mit Serbien in den Raum.

Währenddessen nehmen die, von Iran unterstützten, Huthis von Jemen aus den Schiffsverkehr im Roten Meer ins Visier, feuern Raketen auf Frachtschiffe ab oder versuchen sie zu kapern. Im Irak erhöhen mit Iran verbündete Milizen ihre Attacken auf kurdische und US-amerikanische Einrichtungen, während Iran selbst Ziele in Pakistan mit Marschflugkörpern angreift – um Terroristen zu bestrafen, wie Teheran beteuert. Die Atommacht Pakistan antwortet ihrerseits mit Raketenangriffen auf iranische Ziele. Eine beunruhigende Entwicklung, die die Führung der afghanischen Taliban veranlasst, dringlich vor einem Dritten Weltkrieg zu warnen und die internationale Gemeinschaft zu beschwören, alles zu unternehmen, jede weitere Eskalation zu verhindern. Kim Jong-un unterdessen spekuliert so offen wie nie zuvor über einen Krieg gegen Südkorea.

Man kann sagen, die Lage spitzt sich zu.

Sie spitzt sich auch zu, weil der Westen als schwach wahrgenommen wird. Nach zwei Jahren des Kriegs in der Ukraine mehren sich die kriegsmüden Stimmen in Europa und den USA. In Washington blockieren die Republikaner dringend benötigte Gelder für die Ukraine. In der Europäischen Union ist es Ungarn, das blockiert.

Freilich nicht nur Ungarn. Die Union hat hehren Worten und wohltönenden Versprechen keine entsprechenden Taten folgen lassen. Immer noch hinkt die europäische Rüstungs- und Munitionsproduktion den eigenen Vorgaben weit hinterher, noch immer kann Europa aus eigener Kraft die Ukraine nicht unterstützen, noch immer taktieren wesentliche Politiker und zögern essenzielle Waffenlieferungen hinaus, so wie Deutschlands Kanzler Scholz, der die Taurus nicht und nicht freigibt. Die Zeitenwende, die er vor zwei Jahren unter dem Eindruck der russischen Aggression ausrief, materialisiert sich nicht. Nicht in konsequenter Politik. Nicht in robustem Handeln.

Dabei ist es die Ukraine, in der kommende Konflikte, Krisen und Kriege eingehegt werden können. Ist Europa nicht in der Lage, nicht fähig und willens, ein europäisches Land, das sich einem Vernichtungskrieg gegenüber sieht, mit allen Mitteln und mit aller Kraft zu unterstützen, dann ist auch das auch eine Botschaft an die Welt.

Es wäre das Eingeständnis, dass Politik nach Putinart nunmehr das Maß aller Dinge ist; dass Grenzen ebenso wie internationale Vereinbarungen nichts mehr gelten; dass Gewalt Vorrang vor Diplomatie hat; dass Europa sich in die neue Weltordnung nach dem Gusto Moskaus und Pekings fügt. Nicht zu seinem Vorteil. Putin und seine Gefolgsleute geben unumwunden ihre nächsten Ziele preis: das Baltikum, Polen, Finnland. Mindestens.

Dem kann Europa einen Riegel vorschieben. Indem es gezielt seine industriellen Kapazitäten nutzt, die Ukraine mit allen notwendigen Waffensystemen, Nachschub und Material zu versorgen, damit Kiyv an der Front Oberhand gewinnt – und Russland zum Rückzug zwingt. Mehr noch, Europa muss sein Sanktionsregime gegenüber Russland deutlich verschärfen und alle bislang geduldeten Schlupflöcher, über die nach wie vor strategisch wichtige Güter nach Russland gelangen, schließen. Und während Europa die Ukraine voll und ganz unterstützt, muss es seine militärische Abhängigkeit von den USA rasch reduzieren.

Damit ist Kim Jong-un noch nicht in die Schranken gewiesen. Das hält Maduro nicht davon ab, sein Nachbarland Guyana teilen zu wollen. Aber es ist ein unmissverständliches Zeichen dafür, dass die Union bereit ist, ihre Interessen, ihre Friedens- und Sicherheits-, Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung auch robust zu verteidigen.

Alles das ist mit Kosten, Mühe und Risiken behaftet. Sie sind indes gering im Vergleich zu jenen Kosten, mit denen Europa und seinen Menschen konfrontiert werden, wenn Putins Politik Schule macht. Man kann sagen, es ist eine Investition in die Zukunft. Sie muss jetzt getätigt werden. (fksk, 21.01.2024)

Woche 49 – Demaskierter Kontext

Da saßen sie, drei Präsidentinnen dreier US-amerikanischer Universitäten, Penn, Harvard und MIT, und sorgten für Empörung. Auf die Frage, ob der Aufruf zum Genozid an Juden in Widerspruch zum Regelwerk ihrer Institutionen stehe, antworteten sie nicht mit ja oder nein, sie verwiesen auf Kontext, der zu beachten sei.

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Als ob es einen Kontext gäbe, der den Aufruf zum Genozid an wem auch immer rechtfertigen könnte.

Es sei eine juristische Abwägung der drei Präsidentinnen gewesen, die sie nicht mit ja oder nein habe antworten lassen können, merken manche Juristen nun an und verweisen auf die in der US-Verfassung verankerte Freiheit der Rede und Meinung, die ungleich weiter und radikaler ausgelegt wird als in europäischen Landen. Mithin hätten die drei gar nicht anders können, als auf eine genaue Abwägung aller Umstände hinzuweisen, bevor sie und ihre Institutionen sich der Verletzung der Verfassung schuldig machten.

Tags darauf schieben alle drei Erklärungen nach, in denen sie jeden Aufruf zu Gewalt gegen Juden als inakzeptabel und mit den Werten ihrer Universitäten als unvereinbar bezeichnen. Ein Trauerspiel.

Eines, das in den Diskussionen und treibenden Ideen rund um Postkolonialismus und Dekonstruktivismus der letzten Jahrzehnte wurzelt.

Was als essenzieller Beitrag zur erweiterten Sicht und zum Begreifen der Welt bereits in den 50er Jahren formuliert wurde und mit Edward Saids „Orientialism“ 1978 endgültig Eingang in die Debatte und das Denken fand, der Postkolonialismus, ist mittlerweile zu einem starren Dogma geronnen. Freilich zu einem Dogma, das sich großer Sympathie erfreut, als es Eindeutigkeiten vorgaukelt, die nicht sind; das eine Bequemlichkeit des Denkens ermöglicht, frei von historischen Hintergründen und damit frei von Vieldeutigkeit.

Schuld trägt an allem der Westen.

Schuld tragen die Weißen.

Opfer ist der Globale Süden.

Opfer sind People of Colour.

Immer und überall. Ausnahmslos.

So löst sich Geschichte auf und wird ersetzt durch simplizistische Schwarz-Weiß-Wahrnehmung.

Dass es 1948 einen Teilungsplan für einen jüdischen und einen arabischen Staat gab, den die Araber ablehnten, stattdessen einen Auslöschungskrieg starteten – das spielt keine Rolle, das wird nicht gewusst.

Dass die arabischen Staaten nach 1948 ihre jüdischen Bürger unter dem Hinweis, es gäbe ja nun Israel, vertrieben und sich ihres Hab und Guts bemächtigten, dass uralte jüdische Gemeinden in Bagdad, Damaskus, in Kairo und Tunis gleichsam über Nacht aufhörten zu existieren – das wird ignoriert.

Dass die arabischen Staaten die palästinensischen Flüchtlinge nicht integrierten, ihnen niemals irgendeine Perspektive, als jene der Rückkehr in das angestammte Land in irgendeiner fernen Zukunft, zugestanden – das spielt keine Rolle.

Dass bessere Lebensumstände der Palästinenser wesentlich an der tiefsitzenden Korruption der palästinensischen Autonomiebehörde scheitern – das wird nicht einmal ignoriert.

Und dass die Terrorbande Hamas als regierende Gewalt in Gaza ausnahmslos gegen alle Pflichten zum Schutz der eigenen Bevölkerung verstößt, sie ignoriert und bewusst verletzt – das wird als Schuld Israel zugewiesen.

Das aber alles ist Kontext. Ist jener Kontext, ist jener Hintergrund, der zu wissen notwendig ist, um die Dimensionen des israelisch-arabischen Konflikts auch nur in Umrissen zu erahnen. So, wie es unerlässlich ist, die Rolle der Siedlerbewegung, ihre andauernden Übergriffe gegen die arabische Bevölkerung im Westjordanland einzuordnen, die Rechtsradikalen Israels, die Jichzak Rabin ermordeten, die heute in der Regierung vertreten sind und Israels Demokratie zu demontieren suchen. Auch das sind Facetten, die zu wissen not tut. Und an Facetten mangelt es hier nicht. An ihnen mangelt es nie, an keinem Ort der Welt, zu keiner Zeit und in keiner Situation.

In einer Welt, reich an Komplexität, suggerieren Dogmen Sicherheit. Es sind nicht allein die Unterstützer der Palästinenser und der Hamas, die nach ahistorischer Sicherheit gieren und sie sich auf die Fahnen heften. Die Sicherheit auf Basis eines dichotomischen Geschichtsverständnisses ist weit verbreitet. Auch und gerade in Angelegenheiten gerechter Anliegen.

Es steht außer Frage, dass Europa gut daran tut, sich mit seiner kolonialen Vergangenheit auseinanderzusetzen und sich dabei auf andere Sichtweisen einzulassen. Auf jene des Kongo etwa, wo im späten 19. Jahrhundert ein Verbrechen stattfand, das in seiner Grausamkeit, Menschenverachtung und gnadenlosen Exekution der Shoa den Weg bereitet hat und insofern zu Recht mit der Shoa, dem Holodomor, den Killing Fields von Kambodscha und der chinesischen Kulturrevolution in einem Atemzug genannt werden kann. Genannt werden muss.

Aus Geschichtskenntnis erwächst Verantwortung.

Die Propagandisten des dogmatischen Postkolonialismus indes interessiert Geschichte nicht. Für sie existiert allein der Kontext europäischer Schuld, aus dem es für den Westen und alle, die mit ihm gleichgesetzt werden, kein Entrinnen gibt. Es sei denn um den Preis der Selbstaufgabe.

Das ist die Klaviatur, die von den Terroristen der Hamas über alle ihre Propagandakanäle hinweg virtuos bedient wird, in harmonischem Zusammenspiel mit Russlands Putin, mit dem klerikalfaschistischem Regime des Iran und ihren Sympathisanten aus Politik, Kultur und Wissenschaft des Westens. Gemeinsam bündeln sie ihre Kräfte gegen den Westen und alles, was ihn definiert. Seine universellen Werte, seine Idee einer demokratischen Gesellschaft, einer allgemein gültigen Rechtsordnung, seiner Fähigkeit, Widerspruch und Gegensätze als Notwendigkeit einer liberalen, offenen Gesellschaft zu begreifen und daraus neue Perspektiven zu gewinnen.

Das alles steht in absolutem Widerspruch zu den autoritären und totalitären Modellen, die sich als die Vertreter des geknechteten Globalen Südens ausgeben. Die in ihren haltungsbesoffenen, dogmatischen europäischen und amerikanischen Sympathisanten geschichtsaverse und daher umso so nützlichere Idioten und Verbündete finden. Insofern ist den drei Präsidentinnen für ihren Auftritt zu danken. Er war demaskierend. (fksk, 10.12.23)

Woche 43 – Politik ohne Grundlage

Es soll, so Estlands Premierministerin Kaja Kallas in einem Interview, der österreichische Kanzler Karl Nehammer ihr gegenüber festgehalten haben, dass Russland seine Verpflichtungen gegenüber Österreich stets eingehalten hätte. Nun gibt es Verpflichtungen und Verpflichtungen, solche, die bilateral abgeschlossen werden und solche, auf denen etwa eine internationale Ordnung beruht, die mithin eine Vielzahl an Partnern umfasst, die dadurch den Einzelstaat in ein größeres Ganzes einbettet.

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Die europäische Nachkriegsordnung sowie die Ordnung nach 1989, von der Schlussakte von Helsinki 1977 bis hin zum Budapester Memorandum 1994 sind allumfassende Vertragswerke. Das Memorandum, in dem die Ukraine ihr Atomwaffenarsenal gegen die Zusicherung sicherer Grenzen abgibt, ist eines, das in seiner Bedeutung weit über die Signatarstaaten hinausgreift und damit auch ein Land wie Österreich wenigstens mittelbar betrifft. Umso mehr, wenn das Abkommen, das Papier nicht wert ist, auf dem es geschrieben steht.

Spätestens mit dem 24. Februar 2022 hat Russland unverholen gezeigt, was es von der europäischen Ordnung, von ihren Prinzipien und Übereinkünften hält: nichts. Insofern hat Russland sehr wohl und massiv gegen grundlegende Verträge, an denen Österreich als Vertragspartner höchstes Interesse hat, gebrochen. Dieser Umstand sollte dem Kanzler sehr wohl bewusst sein. Er sollte ihn in Worte und in Politik fassen können.

Stattdessen gewinnt man den Eindruck, die Regierung in Wien hoffe nach wie vor, dass der russische Krieg gegen die Ukraine sich irgendwie auflösen ließe, wenn schon nicht in Wohlgefallen dann wenigstens in einem wie auch immer gearteten Zustand des Nichtkrieges, der es Österreich und anderen ermöglicht, zur Vorkriegspolitik zurückzukehren.

Allein, ein Zurück ist nicht möglich. Der 24. Februar 2022, die Massaker von Butscha und Irpin, die Folter, die Vergewaltigungen, die Entführungen, der nackte Terror, den die russische Kriegsführung gegen die ukrainische Zivilbevölkerung von der Leine gelassen hat, die Großmachtbestrebungen des Moskauer Regimes, seine glasklare Absage an die Kultur und die Werte des Westens, seine offen demonstrierte Kumpanei mit diktatorischen Regimen wie Nordkorea, sein freundlicher Empfang der Gesandten der Terrororganisation Hamas, seine gemeinsamen Interessen mit dem fundamentalistischen Mullah Regime in Iran, das alles ist ein Bruch aller Vereinbarungen und Verpflichtungen, die Russland je mit den Ländern des Westens, insbesondere Europas, eingegangen ist. Also auch mit Österreich. Dieser Bruch ändert alles.

Dass diese Einsicht in Österreich nicht wohlgelitten ist, ist kein Geheimnis. Eine wahrhaft große Koalition von ehemaligen bis hin zu aktiven Politikern, von Sozialdemokraten, Volkspartei und Freiheitlichen in Bund und Ländern will alles, nur den Bruch nicht wahrnehmen. Und wenn, dann bitte als einen Bruch zwischen zwei Systemen, den man – wie weiland Kreisky – überbrücken müsse (die Wahrnehmung Kreiskys als genialer Weltpolitiker ist ein weiteres Mysterium Österreichs).

Die österreichische Lösung liegt mithin nicht in einer auf Gegenwart und Zukunft ausgerichteten Politik, sie liegt in der Besinnung auf eine Vergangenheit, deren Rahmenbedingungen Putin indes gezielt, gewaltsam und aus freien Stücken zerstört hat. Es wird in Wiens politischen Kreisen also konsequent Politik gedacht, die jeder realen Grundlage entbehrt. So erklärt sich denn auch Nehammers Kommentar gegenüber Kallas. Zuversichtlich stimmt das nicht. (fksk, 29.10.23)

Woche 25 – Ein Rubikonmoment

Er ist kein Julius Cäsar, der Herr Prigoschin. Der Feldherr setzte im Jahr 49 v. Chr. alles auf eine Karte, er wusste um die Unumkehrbarkeit seines Handelns, sowie er mit seinen Soldaten den Rubikon in Richtung Rom überschritten hatte. Von da an gab es nur noch Sieg oder Niederlage. Nichts dazwischen. Cäsar triumphierte.

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Prigoschin lässt seinen Trupp – es waren gerade einmal 5.000 seiner Söldner – rund 250 Kilometer vor Moskau umkehren. Er überschreitet die finale Grenze, die, nach der es eben nur noch Sieg oder Niederlage gibt, nicht. Stattdessen begibt er sich ins Exil nach Belarus, lässt seine Männer sowie wohl auch den Krieg gegen die Ukraine fürs Erste hinter sich und lässt die Welt rätseln, was das war an diesem letzten Juniwochenende des Jahres 2023.

Es war wohl eine Ouvertüre, ein Vorspiel, eine Ahnung dessen, was in Russland noch alles möglich ist, wenn der Krieg gegen die Ukraine weiterhin erfolglos bleibt, die Unzufriedenheit wächst und Glücksritter ihre Zeit gekommen sehen.

Von einem Zerfall Russlands ist seit mehr als einem Jahr immer wieder die Rede. Davon, dass, wenn das Zentrum zu schwach wird, einzelne Regionen nach der Selbstständigkeit und Unabhängigkeit streben könnten. Oder dass untereinander verfeindete Fraktionen den Kampf gegeneinander aufnehmen und Russland in einen Bürgerkrieg versinkt (das ist denn hörbar auch Putins Angst).

Diesmal hat das Zentrum der Macht die Oberhand behalten. Wenn es denn, worüber man nur spekulieren kann, Prigoschins Erwartung war, dass sich sich Einheiten der regulären Armee und der Sicherheitskräfte seinem Marsch auf Moskau anschließen würden, dann wurde er bitter enttäuscht. Der Trupp kam beeindruckend schnell voran, um Moskau zu nehmen aber war er zu klein. Genau betrachtet geriet er mit jedem Kilometer, den er in Richtung der Hauptstadt zurücklegte, mehr und mehr zu einem Selbstmordkommando.

An der Konsequenz konnten weder Putin noch Prigoschin irgendwelches Interesse haben. Nicht an einem Gemetzel mitten im heiligen Russland der eine, nicht am Abschlachten der eigenen Männer der andere. Also wählten sie via Lukaschenko einen Ausweg. Fürs erste.

Es ist zu erwarten, dass Putin innerhalb Russlands Armee und Sicherheitskräfte nach Sympathisanten Prigoschins durchkämmen lassen und eine Säuberungswelle initiieren wird. Die Zentralmacht wird danach streben, die Söldnertrupps an die Kandare zu nehmen und totale Kontrolle auszuüben. Das trifft sich mit Putins großer Erzählung, wonach sich Russland in einem ewigen Krieg gegen die Außenwelt befindet. So weit, so erwartbar.

Welche Rolle Prigoschin in Zukunft spielen wird, ob er überhaupt eine spielen wird, bleibt abzuwarten. Fürs erste hat er seine Haut gerettet. Ungeachtet dessen aber bleiben die Ineffizienzen in der russischen Planung und Umsetzung des Kriegs gegen die Ukraine bestehen. Sei es, dass es an Ausbildung mangelt, an Ausrüstung, an Unterstützung oder an guter Behandlung. Im Verein mit ausbleibenden Erfolgen gegen die Ukraine sorgt das auch innerhalb der regulären Armee für ein wachsendes Maß an Unzufriedenheit.

Insofern hat Prigoschin den Rubikon doch auch überschritten, er hat demonstriert, dass es möglich ist, zu rebellieren, den Konflikt mit Putin zu suchen. Und das mit wenigstens teilweise offener Unterstützung der zivilen Bevölkerung in Rostow am Don. Putins Albtraum, Bürgerkrieg und Untergang, ist an diesem Juniwochenende realistischer geworden.

Darauf muss sich auch Europa einstellen. (fksk, 26.06.23)

Woche 09 – Ein endloser Krieg

Russlands Krieg in der Ukraine geht in sein zweites Jahr. Während alle Welt überlegt und diskutiert, wann, wie und unter welchen Bedingungen ein Ende dieses Kriegs möglich sei, formuliert der russische Soziologe und Philosoph Grigory Yudin in einem Medzua-Interview, dass Putin einen „ewigen“ Krieg kämpft, präziser gesagt, kämpfen lässt: „Dieser Krieg ist jetzt für immer. Er hat keine Ziele, die erreicht werden können und die zu seinem Ende führen. Er dauert an, weil (in Putins Vorstellungswelt) sie die Feinde sind, die uns und die wir töten wollen. Für Putin ist das ein existenzieller Zusammenstoß mit einem Feind, der ihn zerstören will.“

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Er fährt fort: „Man darf sich keine Illusionen machen: Solange Putin im Kreml sitzt, wird der Krieg nicht enden. Er wird vielmehr ausgeweitet. Die Masse der russischen Armee wächst, die Wirtschaft wird auf die Rüstungsproduktion ausgerichtet und Bildung wird zu einem Werkzeug der Propaganda und Kriegsvorbereitung. Sie bereiten das Land auf einen langen und schwierigen Krieg vor.“

Yudin belässt es nicht mit dieser einen Feststellung. In dem Gespräch mit Margarita Liutova, geht er tiefer. Es sind nicht nur Putin und sein unmittelbares Umfeld, die Russland in einem dauernden Konflikt mit dem Rest der Welt und hier in erster Linie mit den USA und dem Westen wähnen, es ist tatsächlich ein Gutteil der russischen Bevölkerung, die ebendieses Sentiment teilt.

In seinen Aussagen trifft sich Yugin mit Timothy Snyder, der in seinem Buch „Der Weg in die Unfreiheit – Russland, Europa, Amerika“ Putin als Vertreter der „Ewigkeitspolitik“ beschreibt. Wobei der Ewigkeitspolitiker „die Nation ins Zentrum des Narrativs eines immer wiederkehrenden Opfers“ rückt. Snyder fährt fort: „Es gibt keine Zeitlinie mehr, die in die Zukunft führt, sondern einen Kreis, der endlos dieselben Bedrohungen der Vergangenheit wiederholt“(1). Am 23. Jänner 2012 publiziert Putin einen Artikel, in dem er, fasst Snyder zusammen, „Russland nicht als Staat, sondern als spirituellen Zustand“ beschreibt. Damit wird Russland gleichsam grenzenlos, womit sich Putin das Recht nimmt, alle Menschen, die „Teil der russischen Zivilisation“ – die Putin definiert – sind, für Russland zu beanspruchen. Zum Beispiel die Ukrainer (2).

Yugin bestätigt Snyder: „Sein [Putins] Weltbild kennt keine Grenzen. Diese Devise ist praktisch zur offiziellen Linie geworden: Russland endet nirgendwo. Das ist die Standarddefinition eines Imperiums, als ein Imperium keine Grenzen anerkennt.“ In aller Konsequenz.

Damit nicht genug. Was immer passiert, zumal an Rückschlägen, fügt sich in dieses Weltbild des ewigen Kampfs. Die Ukraine widersteht und der Westen unterstützt sie? Ein Beleg dafür, dass die Behauptung, die Ukraine sei nichts anderes als ein antirussisches Konstrukt der Nato, stimme. Der Westen verhängt Sanktionen? Ein Beweis dafür, dass Russland wirtschaftlich zerstört werden soll. In der Vollversammlung der Vereinten Nationen stimmen 141 Staaten für den Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine? Das Zeugnis dafür, dass alle Welt sich gegen Russland und seine einzigartige Zivilisation verschworen hat; dafür, dass es sich um einen existenziellen Konflikt handelt.

Einen, der keinen Kompromiss kennt. Nur Sieg oder Niederlage.

Für den Westen bedeutet das, die innere Logik und Rationalität des Putinschen Weltbilds endlich anzuerkennen und sie in das eigene strategische Denken als reale und effektive Größen einfließen zu lassen. Zu lange haben die Hoffnung und der Glaube, Putin werde letztlich so logisch und rational handeln, wie der Westen denkt, dominiert. Teils dominiert die Hoffnung immer noch, wenn die Berücksichtigung russischer Sicherheitsansprüche eingefordert wird, um einer Übereinkunft den Boden zu bereiten. Für das russische Regime in seiner aktuellen Verfasstheit wäre dies nichts weiter als ein Etappensieg, um sofort den nächsten Konflikt vorzubereiten, die nächsten territorialen und imperialen Ansprüche anzumelden und einzufordern. So, wie das spätestens seit dem russischen Angriff auf die territoriale Integrität Georgiens im August 2008 Usus ist. Das meint nun nicht, dass der Westen die Ewigkeitspolitik für sich übernimmt, und schon gar nicht, dass man sich ihrer Logik beugt, wohl aber, dass man sich ihrer Mechanismen und ihrer Auswirkungen bewusst wird; dass man ihrer Realität ins Auge blickt.

Das ist das Fundament, eine stringente Strategie und konsequente Politik zu formulieren, die Russlands „ewigem Krieg“ entgegenwirkt und ihn in aller Konsequenz scheitern lässt. Essentiell ist es dafür, dass allen voran die Europäische Union daran arbeitet, eine robuste europäische Friedensordnung und Sicherheitsstruktur für die Zeit danach zu entwickeln. Darin liegt mittel- und langfristig die Stärke der Union: Indem sie ein Zukunftsbild entwerfen kann, an dem sie arbeitet, das greifbar und in seinen Auswirkungen für die Menschen spürbar wird, verfügt sie über einen realen und erstrebenswerten Vorteil gegenüber dem ununterbrochen wiederkehrenden Opfergang von Putins Krieg.

Der lässt sich nur durch Konsequenz, nicht durch Kompromisse beenden. (fksk, 05.03.23)

 

(1) Snyder: „Der Weg in die Unfreiheit – Russland, Europa, Amerika“, CH Beck, 2018, Seite 16

(2) ebenda Seite 69

Woche 08 – Russlands Krieg, Europas Neubeginn

Woche 52. US-Präsident Biden besucht Kiyv. Putin besucht ein Stadion in Moskau. In Wien beruft Neos zum Jahrestag Russlands Invasion eine Sondersitzung des Nationalrats ein. In Berlin demonstrieren 15.000 mit Wagenknecht und Schwarzer vor dem Brandenburger Tor gegen Waffenlieferungen an die Verteidiger der freien Ukraine. Eine Woche zuvor hat Ungarns Premier Orban in seiner Rede an die Nation Wagenknecht und Schwarzer inhaltlich vorweggenommen.

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Der 24. Februar 2022 bezeichnet ein einschneidendes Datum in der europäischen Geschichte. Das, wovor man die Augen geschlossen hat, wovon man hoffte, es würde einfach nicht eintreten, ist Realität geworden: Krieg mitten in Europa. Krieg zu Wiedererrichtung eines Imperiums. Krieg gegen die internationale Rechtsordnung, gegen die europäische Friedensordnung, gegen das Völkerrecht.

In der Ukraine bedeutet das ganz konkret Vergewaltigungen, Massaker, Folter und Brandschatzung durch russische Soldaten, den organisierten Raub von Kindern, Getreide und Kulturgütern, die Zerstörung aller Hinweise auf ukrainisches Geistesleben. Es ist ein Vernichtungskrieg, der da vor den Augen der Weltöffentlichkeit gegen die Ukraine geführt wird.

Es ist aber auch die Weltöffentlichkeit, die nicht so reagiert, wie die russische Führung rund um Putin das gedacht haben muss. Der Angriff am 24. Februar und der erfolgreiche Widerstand der Ukrainer bedingt ein Umdenken. Von einer Zeitenwende spricht Deutschlands Kanzler Scholz wenige Tage nach Beginn der Invasion. Inzwischen ist Deutschland nach den USA und Großbritannien der drittgrößte Lieferant von Waffen und Waffensystemen an die ukrainische Armee. Wobei fast jeder Lieferung, jeder Festlegung eine schmerzhaft lange Debatte in Deutschland vorausgeht. Die Zeitenwende ist ein langwieriger Prozess, mit einem klaren Ost-West-Gefälle.

Da sind Estland, Lettland und Litauen sowie Polen, die seit Jahr und Tag vor russischen Expansionsgelüsten gewarnt haben – und vom Rest der Europäer im besten Fall als etwas lästig empfunden wurden. Da sind die Länder ganz im Westen wie Frankreich, Spanien und Portugal, denen der Krieg immer noch ferner erscheint als ihren östlichen Nachbarn. Und da sind dann auch noch Länder die Länder in der Mitte, etwa Deutschland, Österreich und Ungarn, die jedes für sich eine spezielle Rolle spielen, die jedes auf seine Art tiefer in diesen Krieg verstrickt sind als gemeinhin sichtbar.

Zum Beispiel Deutschland. Die geopolitische Verflechtung mit Russland reicht weit zurück. Vor genau 101 Jahren führt die Rolle beider Staaten als Außenseiter im europäischen Konzert zum Pakt von Rapallo, der auf wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit hin abzielt. Die junge Sowjetunion wird zum Handelspartner Europas potenziell stärkster Volkswirtschaft. Deutschland wiederum kann im Osten, fernab der Augen Frankreichs und Großbritanniens, seine Truppen ausbilden und mit Waffensystemen vertraut machen, die ihm verboten sind. Nur 17 Jahre später schließen Hitlerdeutschland und Stalinrussland jenen Pakt, der den Zweiten Weltkrieg einläutet, Polen einmal mehr teilt und der Vernichtung durch beide Regime freigibt. Bis Nazideutschland die Sowjetunion überfällt und das heutige Belarus, das Baltikum, die Ukraine sowie die westlichen Regionen Russlands in europäische Killing Fields verwandelt. Wobei die Kumpanei der beiden Regime bis zum Schluss über ihre Gegnerschaft triumphiert. Den Warschauer Aufstand 1944 schlägt die Wehrmacht ungestört von der Roten Armee nieder, die nur kurz vor der polnischen Hauptstadt haltgemacht hat – und darauf wartet, dass die Deutschen ihr Geschäft besorgen, die Vernichtung des polnischen Widerstands. Partner in crime.

Nein, das ist nicht die Basis, auf der das Verhältnis zwischen Berlin und Moskau heute maßgeblich aufbaut. Aber diese unausgesprochene, subkutane Ebene spielt immer noch in das besondere Verhältnis zwischen Deutschland und Russland hinein und erklärt wenigstens zum Teil das deutsche Streben, die russischen Bedürfnisse und Befindlichkeiten über jene seiner östlichen Nachbarn zu stellen. Ziehen Wagenknecht und Schwarzer mit dem ehemaligen General Vad und dem einstigen Star der deutschen Sozialdemokratie, Lafontaine, vor das Brandenburger Tor, dann manifestiert sich in ihnen dieses Element, das niemals gegen, dafür immer mit Russland arbeiten will. Eine krude Mischung aus rückwärtsgewandtem Romantizismus und Verehrung brutal zur Schau gestellter Macht.

Zum Beispiel Österreich. Bei jenem demaskierenden Auftritt der Herren Fischer und Leitl mit Putin im Festsaal der Wiener Wirtschaftskammer 2014, ist es Leitl der mit Blick auf die Ukraine darauf hinweist, dass 100 Jahre zuvor Lemberg/Lviv als Teil des Kronlandes Galizien eine altösterreichische Metropole war. Putin gluckst und meint, er fürchte sich, vor dem was da nun kommen mag, woraufhin Fischer ihm lachend die Schultern streichelt – unter uns alten Imperien, so kann die Geste gelesen werden, ist ein wenig Spaß erlaubt. Verständnis für imperiale Nostalgie aber ist garantiert.

Denn es verbindet die kleine Republik ein seltsames Verhältnis zur dem einstigen habsburgischen Österreich. Gerne schmückt man sich mit allerlei k.k-Glitter, mit Lipizzanern, Sisi-Kitsch und monarchischem Gepränge. Dem Rest schenkt man weniger Aufmerksamkeit, dem vielsprachigen Reichsrat, der multinationalen Armee, dem Bemühen, das europäische Vielvölkerreich entgegen aller seiner internen Konflikte in das 20. Jahrhundert zu führen (ein Versuch, der damals an Borniertheit und althergebrachten Ehrvorstellungen scheiterte). Nichts schmeichelt der Seele Kleinösterreichs mehr, als wenn man ihr imperiale Größe und Weltgeltung bescheinigt. In der Musik. Im Theater. In Kunst, Kultur und Skifahren. Es kennt die kleine Republik den Phantomschmerz eines verschwundenen Imperiums. Und es war wieder und wieder Putins Russland, das es verstanden hat, diesen speziellen Ton zu treffen, der österreichische Kanzler (als die einzigen EU-Vertreter) zum Wirtschaftsforum in St. Petersburg lockt; der österreichische Außenministerinnen tanzen und knicksen lässt; der das Land einen Hauch einstiger Größe wahrnehmen lässt. Glanz und Gloria in Zuckerguss. Und üppige Geschäfte dazu.

Zum Beispiel Ungarn. Nun wäre Ungarn eigentlich jenes Land, welches historisch am wenigsten mit Russland verbindet, wenigstens nicht im Positiven. Da bittet der junge Kaiser seinen Partner den Zaren vor 175 Jahren um Truppen, die ungarische Revolution niederzuschlagen. Da kommen die russischen Truppen 1956 wieder und schlagen wieder eine Revolution nieder. Bis sie ein junger Mann 1989 in einer aufsehenerregenden Rede auffordert, das Land endlich zu verlassen. Der Abzug der Roten Armee ist auch ein Erfolg des jungen Orban, der damit seine politische Karriere startet. Doch wo die Österreicher mit zuckerglasierter Nostalgie auf die Habsburgermonarchie zurückblicken, fühlt Orban den Schmerz des Verlusts. Der Friedensvertrag von Trianon, 1920 nach den Verträgen von Versailles und St. Germain oktroyiert und nicht verhandelt, reduziert Ungarn auf seinen ethnisch homogenen Kern. Dass in allen seinen Nachbarländern ungarische Minderheiten leben, empfindet ein großer Teil der Ungarn bis heute als ungerecht. Die Karten, auf denen Ungarn in den Grenzen von 1918 dargestellt wird, sind weit verbreitet. Sie sind ein politisches Statement. Es ist der Schmerz um die einstige Dominanz, das Gefühl, vom Westen, von aller Welt betrogen worden zu sein und im Grunde genommen alleine zu stehen. Darin versteht Orban Putin und fühlt sich ihm mehr verbunden als den westlichen Werten, die aus seiner Sicht das wahre Ungarn bedrohen. Eine Partnerschaft in Ablehnung.

Es sind indes immer wieder Schockereignisse, die alte Bindungen und Einstellungen in Frage stellen, in ihrer Wirkmacht abschleifen und langsam verschwinden lassen. Der russische Angriff auf die Ukraine bewirkt genau das. In Deutschland, wo der Russlandromantizismus der Realität nicht mehr standhält und die Politik der letzten 20 Jahre gegenüber Moskau einer kritischen Revision unterzogen wird. Wagenknecht und Schwarzer sind nicht die Mehrheit, selbst wenn sie es zu sein behaupten.

In Österreich wiederum ist die Debatte über das Selbstverständnis der Republik und ihrer Neutralität nicht mehr einzufangen, wenngleich Kanzler Nehammer, artig assistiert von der Sozialdemokratin Rendi-Wagner, das versucht. Es sind die liberalen Neos und, etwas zurückhaltender, die Grünen, die unterstützt und begleitet von Initiativen wie unseresicherheit.org und immer vernehmbareren Stimmen aus der Gesellschaft die Ausrichtung der Republik hinterfragen und diskutieren. Das ist tatsächlich neu und im Grunde überfällig.

Indem Russland mit seiner Invasion die geltende Friedensordnung in Europa zu zerstören sucht, hat es eine Dynamik angestoßen, die seine Instrumentarien der subtilen Macht, den Romantizismus, die Nostalgie nach imperialen Glanz, zusehends stumpf werden lässt. Eine Dynamik, die nicht nur in Deutschland und Österreich (über kurz oder lang auch in Ungarn) zu gravierenden Veränderungen im Selbstbild führen wird, die zudem eine geopolitische Neuausrichtung der gesamten Union zur Folge haben wird.

Das war nicht Putins Intention. (fksk. 26.02.23)

Woche 06 – Ein Manifest und Abschiedsgruß

Woche 50 des russischen Kriegs gegen die Ukraine. Die Wucht der Angriffe auf die ukrainischen Stellungen und Städte nimmt zu. Alles deutet darauf hin, dass die lang erwartete Offensive Russlands begonnen hat. Nach Angaben des britischen Verteidigungsministeriums sind die russischen Verluste mit mehr als 800 Mann pro Tag derzeit so hoch wie nie seit dem Überfall. Wie hoch jene der ukrainischen Seite sind, darüber liegen weder Zahlen noch Schätzungen vor. Söldnerführer Prigoschin betont unterdessen gebetsmühlenartig die Bedeutung der „Menschenmühle Bakhmut“ um die Ukraine „ausbluten“ zu lassen. Russland scheint bereit, dafür jeden Preis auch an eigenen Menschenleben zu zahlen. Unterdessen beginnt in Deutschland die Ausbildung ukrainischer Soldaten am Leoparden, die britische Regierung sichert der Ukraine die Lieferung neuer und reichweitenstärkerer Raketensysteme zu und mittels Videobotschaft rufen Frau Wagenknecht und Frau Schwarzer dazu auf, ihr neues Manifest zu unterzeichnen. Sie befürchten eine Rutschbahn in einen Atomkrieg, fordern Kanzler Scholz auf, den Frieden zu verhandeln und die Panzerlieferungen an die Ukraine zu stoppen.

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Es ist nicht das erste Manifest aus deutschen Landen. Und es ist auch nicht das erste, an dem Frau Schwarzer maßgeblich Anteil hat. Es sind diese Manifeste ein recht deutsche Angelegenheit.

In keinem anderen Land wird der Krieg in der Ukraine so intensiv diskutiert wie in Deutschland. Kaum ein Abend, an dem nicht irgendein Sender das Thema behandelt. Kaum ein Tag, an dem keine Kommentare zum Thema erscheinen. Wo immer Kanzler Scholz auftritt, den Schatten des Krieges wird er nicht los, so wenig wie Außenministerin Baerbock oder Verteidigungsminister Pistorius. Auf jeden Schritt, den Deutschland setzt, folgt sogleich die bange Frage, ob die Bundesrepublik damit direkt und unmittelbar Kriegspartei würde.

Alles das ist, aus der deutschen Geschichte heraus, durchaus zu verstehen (dass diese Debatte in Österreich so gar nicht stattfindet ist in gewisser Weise mindestens so irritierend). Es geht im Kern um die Interpretation der Aussage und des Versprechens „Nie wieder!“.

Bedeutet dieser Schluss, dass Deutschland sich niemals wieder in Kriege involvieren soll? Weder mit Soldaten noch mit Waffenlieferungen? Oder ist in dieser Aussage vielmehr die Aufforderung an Deutschland enthalten, alles zu unternehmen, damit es niemals mehr zur Herrschaft des Unrechts kommt? Mit allen Mitteln?

Seit mehr als 30 Jahren begleitet diese Auseinandersetzung die Berliner Republik. 1999 begründete der damalige Außenminister Fischer den umstrittenen Kosovoeinsatz der Bundeswehr eingedenk der Massaker von Srebrenica und Tuzla (1995) in Bosnien mit eben dieser Verpflichtung aus der deutschen Geschichte. Und gerade dieser Einsatz, der völkerrechtlich durch die Vereinten Nationen nicht gedeckt war, hätte wesentlich zur Klärung beitragen können. Dieses Momentum wurde nicht genutzt. Noch zu Zeiten der Regierung Schröder-Fischer wurde das Thema nicht mehr aufgegriffen, so wenig wie in den langen 16 Jahren der Kanzlerinnenschaft Merkels.

Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Feburar 2022 aber steht die Frage wieder unübersehbar im Raum und sorgt für Streit nicht nur in deutschen Wohnzimmern und an deutschen Stammtischen. Den Offenen Briefen und Manifesten kommt dabei als Mittel der Kommunkation und Standortvergewisserung eine wichtige, eine zentrale Rolle zu.

Wenn Schwarzer und Wagenknecht hier nun Verhandlungen und einen Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine fordern, verweisen sie auf eine drohende Eskalation. Das ist das wiederkehrende Thema in Deutschland. Die Angst, dass Russland darin schon einen kriegerischen Akt sieht, auf den es mit Mitteln des Krieges reagiert. Mit Bomben auf Berlin, so wie sie in russischen TV-Shows immer wieder gefordert werden.

Im Verständnis von Schwarzer und Wagenknecht geht es darum, dem Aggressor keinen Widerstand entgegenzusetzen, oder wenigstens den Widerstand nicht zu unterstützen. Denn, so die beiden Damen, der Aggressor verfolge mit seiner Aggression legitime Ziele. Er stille sein Sicherheitsbedürfnis. Das habe die Ukraine zu akzeptieren und in Form von Territorialverlusten sowie dem Verlust ihrer Eigenständigkeit und Unabhängigkeit hinzunehmen. Es ist aus ihrer Sicht ein Friede, dessen Last die Ukraine zu tragen habe, besser als ein Andauern des Krieges. Nicht weil daraus ein tragfähiger Frieden entstünde, als einzig und allein des Endes der Kampfhandlungen wegen.

Weil dann der Krieg aus den Wohnzimmern der Deutschen verschwindet. Und mit ihm die tägliche Anklage gegen einen imperialistischen Aggressor namens Russland. Weil damit auch die Frage, wie man es mit dem „Nie wieder“ denn hält, verschwindet.

Es stellt dieser Krieg recht eigentlich die Welt auf den Kopf. Imperialismus, das ist etwas, was – zumal in Deutschland – über Jahrzehnte einzig den USA vorgeworfen wurde. Das Bild der Vereinigten Staaten als perfide Macht, die im Hintergrund die Fäden zieht, die friedliebenden Völker der Welt zu knechten, das sitzt tief in deutschen Landen und Gemütern. Das wurzelt in der NS-Zeit, das wurde in der DDR in Bausch und Bogen übernommen, das wurde in der westdeutschen Friedensbewegung mit Inbrunst vorgetragen.

Und nun ist es Russland, welches das Völkerrecht bricht und missachtet, dessen Soldaten und Söldner raubend, vergewaltigend, mordend und folternd einen Vernichtungskrieg führen und im Auftrag Putins das russische Imperium wiederzuerrichten versuchen. Die Antwort des Westens ist, bei allem Zögern, eindeutig. Es darf dieser Akt der Willkür und Gewalt nicht von Erfolg gekrönt sein.

Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen. Es muss ihn verlieren.

Hier nun kommt die Interpretation Fischers zum „Nie wieder“ zum Tragen. Zusehen und nichts zu tun, ist für Deutschland, ist für den Westen, keine vertretbare Alternative. Dafür stehen in der Bundesrepublik Außenministerin Baerbock, Wirtschaftsminister Habeck, die FDP-Abgeordnete Strack-Zimmermann, Verteidigungsminister Pistorius, der SPD-Abgeordnete Roth und der CDU-Mann Röttgen, um nur einige aus der politischen Klasse zu nennen. Und auch Kanzler Scholz.

Was sie neben ihrer Haltung ebenfalls auszeichnet, ist der Umstand, dass sie durch die Bank jünger sind als Frau Schwarzer. Sieht man von Frau Wagenknecht ab, so sind die Erstunterzeichner durchwegs ältere Jahrgänge. Jene, die von eben dieser Friedensbewegung geprägt wurden, die im Bonner Hofgarten demonstrierten, die US-Stützpunkte mit Sitzblockaden stillzulegen versuchten, die sich mit aller Kraft und aus tiefster Überzeugung gegen den Nato-Doppelbeschluss stellten (den der sozialdemokratische Kanzler Schmidt ersonnen und auf Schiene gesetzt hatte).

Mit diesem Manifest verteidigen sie einmal noch ihr Lebenswerk, ihre BRD-Welt und ihre Sicherheiten. So kann man ihn denn auch lesen, diesen Aufruf, als den verzweifelten Versuch der Alten sich in einer Welt, die sich neu sortiert, zu behaupten. Mit den Ansichten und den Rezepten von gestern. Es ist dieses Manifest ein Abschiedsgruß der Bonner Republik. Direkt aus dem Herzen der miefig-piefigen westdeutschen Provinz. (fksk, 12.02.23)

Woche 04 – Heinz Fischer oder: Die Welt von Gestern

Vier Wochen noch bis zum Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine. Deutschland gibt den Leopard frei, die USA sichern Kyiv Abrams M1 Panzer zu, Polen liefert zusätzlich ältere Modelle der sowjetischen T-Serie. Die Schlacht um Bakhmut hält unvermindert an, Kyiv spricht von einer schwierigen Lage, in der die ukrainischen Soldaten ihre Stellungen halten. Unterdessen gehen die russischen Raketen- und Bombenangriffe auf zivile Infrastruktur in der Ukraine weiter, in den westlichen Medien gerinnen sie langsam zu Alltagsmeldungen und verschwinden aus den Schlagzeilen. In der Nacht von Samstag auf Sonntag werden in Iran offenbar Angriffe auf militärische Einrichtungen und Drohnen-Fabriken durchgeführt. Das Regime meint, es sei kein Schaden entstanden. Die Opposition hingegen geht von größeren Schäden aus. Wer hinter den Angriffen steckt und sie durchführt, ist unklar.

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In Österreich gibt derweil Altbundespräsident Heinz Fischer dem SPÖ-Online-Magazin kontrast.at ein Interview. Darin spricht er über die Entwicklung des österreichischen Parlaments seit den 60er Jahren, über das Vertrauen der Menschen in die Politik und er spricht über den Krieg in der Ukraine sowie über die Neutralität Österreichs. Es sind vor allem diese Passagen, die dieses Gespräch zwischen Patricia Huber und dem großen alten Mann der österreichischen Sozialdemokratie so lesenswert machen. Sie legen ein Denken frei, welches das Weltbild der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts vollständig konserviert hat und – nebenbei bemerkt –, mit einer etwas fragwürdige Wahrnehmung der Position Österreichs im internationalen Geschehen verbindet.

Also spricht Fischer: „Die Neutralität ist generell für Außen- und Friedenspolitik wichtig, nicht nur für eine sozialdemokratische. [...] In der Zeit der großen Blöcke – Ost und West – war die Neutralität für Österreich wirklich eine sehr gute Lösung, die sich mit der Zeit immer fester im Bewusstsein der Bevölkerung verankert hat – so ähnlich wie das auch in der Schweiz schon viel länger und viel früher der Fall war. Es nützt ganz einfach der Friedenspolitik, wenn nicht alle Länder in Nato oder Warschauer Pakt, in Ost oder West eingeteilt sind.“

Nun mag man Fischer zugestehen, dass er die prägenden Jahre seiner politischen Karriere in den 70er und 80er Jahren erlebt hat, dass er indes vom Warschauer Pakt immer noch im Präsens spricht, mutet seltsam an. Der Konflikt des Westens mit Russland ist eben kein Ost-West-Konflikt mehr, als von Estland, Lettland, Litauen und Polen über Tschechien, die Slowakei, Ungarn bis hin zu Rumänien und Bulgarien der europäische Osten Teil der EU und der Nato geworden ist. Freiwillig, aus eigenen Stücken, und aus dem Bestreben heraus, sich als Nationen gegen Russland und seine imperialen Ambitionen rückzuversichern. Hört man Fischer zu, dann hört man – dem Präsens sei Dank – sein Verständnis für Russlands Klage von der Nato „eingekreist“ zu werden. Dann spricht daraus Verständnis dafür, dass Russland Anspruch auf die Wahrung seiner traditionellen, sprich sowjetischen, Einflusssphäre erhebt.

Fischer hat Putin einmal schon öffentlichkeitswirksam und wortwörtlich den Rücken gestärkt, er tut es auch in diesem Interview, wenn er über die Ursache der russischen Aggression sinniert: „Kriege haben immer einen langen Vorlauf und die Situation zwischen Russland und der Ukraine war schon Jahrzehnte lang eine sehr schwierige und spannungsgeladene. In der Ukraine hat es einen russischen Flügel und einen pro-westlichen Flügel gegeben, die haben sich bekämpft. Sie haben sich am Maidan gegenseitig beschossen. Österreich zählt nicht in eine Gruppe solcher Staaten, die so umstritten und so umkämpft sind. Ich glaube, dass der Westen sich freut, dass Österreich ihm keine Sorgen macht und ich glaube, dass der frühere Osten froh ist, dass Österreich keine Probleme macht.“

Die Ukraine hat seit ihrer Unabhängigkeit, das ist Tatsache, einen bewegten und konfliktbeladenen Weg hin zu einer demokratisch verfassten Gesellschaft durchlaufen (und sie durchläuft ihn immer noch). Umso mehr gilt es anzuerkennen, dass in der Ukraine Regierungen und Präsidenten gewählt und abgewählt wurden (und werden). Dass der demokratische Machtwechsel funktioniert. Diesen Umstand schlicht zu ignorieren und einen Bürgerkrieg in der Ukraine zu insinuieren, so wie Fischer das hier tut, ist schlicht unlauter und intellektuell unredlich.

Freilich, pflegt man ein Österreichbild, so wie es der Altbundespräsident hier offenherzig darlegt, dann darf die Schlichtheit nicht weiter wundern. Es spricht das ehemalige Staatsoberhaupt von Österreich wie von einem Kind, das eben keine „Sorgen“ und „Probleme“ macht. Nicht dem Westen, nicht dem Osten, die sich darüber wahlweise freuen oder darüber froh sind. Österreich als eine Insel der Seligen inmitten der Stürme der Gegenwart, ein politisches Nullum. Ein Gebilde, das niemals handelt, nie Subjekt, sondern ausschließlich Objekt ist. Ein Staatswesen, das am liebsten nie und nirgendwo anecken will, überall gerne mit von der Partie aber niemals initiativ oder gar verantwortlich ist. Ein Opportunist par excellence.

So ist Österreich nicht (um den aktuellen Bundespräsidenten zu paraphrasieren). So sind vor allem die Verhältnisse nicht mehr. Der „Osten“, den Fischer im Interview als Gegensatz zum „Westen“ bemüht, ist heute ausschließlich das imperialistische Russland, wie Putin es geformt hat. Die Republik ist Mitglied der Europäischen Union und mithin in einem politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich vollkommen anders gearteten Umfeld eingebettet als sie es in den Jahren zwischen 1955 und 1989 war. Und so wie das Parlament sich geändert hat, in seiner Arbeit und seinem Selbstverständnis (auch in dieser Hinsicht ist das Gespräch mit Fischer lesenswert), so hat sich Österreich verändert und mit ihm Europa und die Welt.

Dass Fischer der Welt von gestern nachhängt, das mag seiner politischen Biographie geschuldet sein. Dass er die Rezepte von gestern zur Lösung der Probleme von heute empfiehlt, ist fragwürdig. Dass es ihm die österreichische Sozialdemokratie darin gleich tut, das ist zukunftsvergessen. Und das ist noch milde ausgedrückt. (fksk, 29.01.23)