Kiyv

Woche 03 – Putin macht Schule

Das klingt vertraut: Erewan sei, betonte unlängst Aserbeidschans Präsident Alijew, von alters her und also immer schon aserbeidschanisches Territorium und Siedlungsgebiet. Dass die Stadt, noch dazu als Hauptstadt, armenisch ist, das verdanke sich nur einem dummen Zufall aus den frühen Tagen der Sowjetunion. So klang Alijew bereits 2018. Jetzt hat er es wieder in den Raum gestellt. Diesmal nach militärischen Erfolgen und im Schatten des russischen Kriegs in der Ukraine.

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Putins Beispiel macht Schule.

Als die russische Armee vor bald zwei Jahren alle Grenzen überschritt und nach der Krim und dem Donbass 2014 auf breiter Front in die Ukraine einfiel, setzte Moskau damit ein Exempel. Die internationale Ordnung, nach 1945 geschaffen auf Basis völkerrechtlicher Verträge und Verpflichtungen, ein System, dazu gedacht, Konflikte und Kriege hintanzuhalten, all das gilt nichts mehr. Allenfalls gelten sie als Instrumente des perfiden Westens zur Unterdrückung der Welt. Das ist ein unverhohlenes Signal an autoritäre Machthaber in anderen Weltgegenden, sich zu holen, was ihnen ins Auge sticht.

Die rohstoffreichen Regionen Guyanas etwa, auf die Venezuela Anspruch erhebt, abgesichert durch ein Referendum, in dem dieser Anspruch unter der eigenen Bevölkerung abgefragt wurde. Was die Bevölkerung in Guyana dazu zu sagen hätte, interessiert in Caracas nicht.

In Belgrad spitzt Präsident Vucic seit Monaten schon Sprache und Politik gegenüber dem Kosovo zu. Die serbische Armee wird aufgerüstet, um zu gegebenem Zeitpunkt der Unabhängigkeit der einstigen Provinz ein gewaltsames Ende zu bereiten und wohl auch der Eigenständigkeit Montenegros. Parallel dazu erhöht der Präsident des bosnisch-herzegowinischen Kantons Republika Srpska, Herr Dodik, die regionalen Spannungen und stellt die Vereinigung mit Serbien in den Raum.

Währenddessen nehmen die, von Iran unterstützten, Huthis von Jemen aus den Schiffsverkehr im Roten Meer ins Visier, feuern Raketen auf Frachtschiffe ab oder versuchen sie zu kapern. Im Irak erhöhen mit Iran verbündete Milizen ihre Attacken auf kurdische und US-amerikanische Einrichtungen, während Iran selbst Ziele in Pakistan mit Marschflugkörpern angreift – um Terroristen zu bestrafen, wie Teheran beteuert. Die Atommacht Pakistan antwortet ihrerseits mit Raketenangriffen auf iranische Ziele. Eine beunruhigende Entwicklung, die die Führung der afghanischen Taliban veranlasst, dringlich vor einem Dritten Weltkrieg zu warnen und die internationale Gemeinschaft zu beschwören, alles zu unternehmen, jede weitere Eskalation zu verhindern. Kim Jong-un unterdessen spekuliert so offen wie nie zuvor über einen Krieg gegen Südkorea.

Man kann sagen, die Lage spitzt sich zu.

Sie spitzt sich auch zu, weil der Westen als schwach wahrgenommen wird. Nach zwei Jahren des Kriegs in der Ukraine mehren sich die kriegsmüden Stimmen in Europa und den USA. In Washington blockieren die Republikaner dringend benötigte Gelder für die Ukraine. In der Europäischen Union ist es Ungarn, das blockiert.

Freilich nicht nur Ungarn. Die Union hat hehren Worten und wohltönenden Versprechen keine entsprechenden Taten folgen lassen. Immer noch hinkt die europäische Rüstungs- und Munitionsproduktion den eigenen Vorgaben weit hinterher, noch immer kann Europa aus eigener Kraft die Ukraine nicht unterstützen, noch immer taktieren wesentliche Politiker und zögern essenzielle Waffenlieferungen hinaus, so wie Deutschlands Kanzler Scholz, der die Taurus nicht und nicht freigibt. Die Zeitenwende, die er vor zwei Jahren unter dem Eindruck der russischen Aggression ausrief, materialisiert sich nicht. Nicht in konsequenter Politik. Nicht in robustem Handeln.

Dabei ist es die Ukraine, in der kommende Konflikte, Krisen und Kriege eingehegt werden können. Ist Europa nicht in der Lage, nicht fähig und willens, ein europäisches Land, das sich einem Vernichtungskrieg gegenüber sieht, mit allen Mitteln und mit aller Kraft zu unterstützen, dann ist auch das auch eine Botschaft an die Welt.

Es wäre das Eingeständnis, dass Politik nach Putinart nunmehr das Maß aller Dinge ist; dass Grenzen ebenso wie internationale Vereinbarungen nichts mehr gelten; dass Gewalt Vorrang vor Diplomatie hat; dass Europa sich in die neue Weltordnung nach dem Gusto Moskaus und Pekings fügt. Nicht zu seinem Vorteil. Putin und seine Gefolgsleute geben unumwunden ihre nächsten Ziele preis: das Baltikum, Polen, Finnland. Mindestens.

Dem kann Europa einen Riegel vorschieben. Indem es gezielt seine industriellen Kapazitäten nutzt, die Ukraine mit allen notwendigen Waffensystemen, Nachschub und Material zu versorgen, damit Kiyv an der Front Oberhand gewinnt – und Russland zum Rückzug zwingt. Mehr noch, Europa muss sein Sanktionsregime gegenüber Russland deutlich verschärfen und alle bislang geduldeten Schlupflöcher, über die nach wie vor strategisch wichtige Güter nach Russland gelangen, schließen. Und während Europa die Ukraine voll und ganz unterstützt, muss es seine militärische Abhängigkeit von den USA rasch reduzieren.

Damit ist Kim Jong-un noch nicht in die Schranken gewiesen. Das hält Maduro nicht davon ab, sein Nachbarland Guyana teilen zu wollen. Aber es ist ein unmissverständliches Zeichen dafür, dass die Union bereit ist, ihre Interessen, ihre Friedens- und Sicherheits-, Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung auch robust zu verteidigen.

Alles das ist mit Kosten, Mühe und Risiken behaftet. Sie sind indes gering im Vergleich zu jenen Kosten, mit denen Europa und seinen Menschen konfrontiert werden, wenn Putins Politik Schule macht. Man kann sagen, es ist eine Investition in die Zukunft. Sie muss jetzt getätigt werden. (fksk, 21.01.2024)

Woche 48 – Pariser Sicherheitsgarantien

Neun Monate Krieg in der Ukraine. Am östlichen Ufer des Dnipro sollen russische Verbände teilweise ihre Stellungen räumen, es soll an einem Ort sogar schon die ukrainische Flagge gehisst worden sein. Genaues weiß man nicht. Vor Bakhmut gehen die schweren Gefechte weiter, die Verluste auf beiden Seiten steigen, die Stadt ist ein Trümmerfeld. Mal heißt es, die ukrainischen Verteidiger seien im Vorteil, dann wieder werden russische Geländegewinne vermeldet. Minimale nur, teuer erkauft. Präsident Macron besucht Präsident Biden, beide meinen, man könne mit Russland verhandeln, wenn...

© Seb Cate/unsplash.com

...Russland sich aus allen ukrainischen Gebieten zurückziehe und die Integrität des Landes anerkenne, so Biden,...

...und dann ließe sich auch über die Sicherheitsbedürfnisse Russlands reden, meint Macron...

... währenddessen Deutschlands Kanzler Scholz wieder einmal mit Putin telefoniert und erfährt, dass der Krieg, dass das alles längst schon vorüber wäre, unterstützte der Westen nicht die Ukraine. Offenbar liest Russlands Präsident die Aussagen mancher deutscher Intellektueller, Publizisten und Ex-Generäle sehr genau. Denn, so weiß man in diesen Kreisen, längst herrschte wieder Ruhe in Europa, würden die Ukrainer nicht mit Waffen und Systemen und Informationen unterstützt und versorgt. Womit sie ohne jeden Zweifel recht haben. Es herrschte dann Friedhofsruhe in der Ukraine. Im Sinne des Wortes.

Die interessanteste Aussage aber ist jene Macrons, der anbietet, über die Sicherheitsbedürfnisse Russlands verhandeln zu wollen und Russland dabei auch Garantien in Aussicht stellt, Moskaus Ansprüche mithin als gerechtfertigt einstuft. Was angesichts des Umstands, dass es Russland war und ist, welches die Sicherheitsinteressen eines souveränen Staates missachtet, einigermaßen kreativ klingt. Es klingt, verstärkt durch das Telefonat zwischen Berlin und Moskau, einmal mehr nach dem alten Lied, wonach Deutschland und Frankreich nur allzu bereit wären, dem eigenen Wohlergehen ein Stück Ukraine zu opfern. Es ist das alte Lied, wonach Westeuropa feige ist und träge, Osteuropa hingegen voll des Elans, Freiheit und Demokratie zu verteidigen (was angesichts mancher Regierungen im EU-Osten nun auch wieder kreativ klingt). Russland indes tönt zurück, man könne gerne über alles verhandeln, so Kiyv den Verlust aller von Russland eingeforderten Territorien akzeptiere, die Waffen niederlege und weder der EU noch der Nato beitrete.

Womit klar ist, dass dieser Krieg auf dem Schlachtfeld entschieden werden wird, da es nichts gibt, worüber man verhandeln könnte. So einfach ist das.

Was bleibt, ist die Frage, was die Töne aus Paris zu bedeuten haben. Denn dass Macron annimmt, die Ukraine wäre nach ihren beeindruckenden militärischen Erfolgen bereit, Abstriche in ihrem Sicherheitsbedürfnis zu machen, ist unrealistisch. Es passt auch nicht zu den verstärkten Anstrengungen Frankreichs, die Ukraine endlich mit Waffensystemen zu unterstützen. Es passt schon gar nicht zu den freundlichen, gar vertrauten Tönen, die letzthin zwischen Kiyv und Paris zu hören waren. Frankreich ist, wie Deutschland, wie die gesamte EU, in diesem Krieg Partei auf Seiten der Ukraine.

Es ließe sich die Sicherheitsgarantie, die Macron in den Raum gestellt hat, auch anders verstehen. Als Garantie dafür, dass Putin und Russland nach einem verlorenen Krieg nicht in Frage gestellt werden; dass der Westen definitiv kein Interesse daran hat, Russland zerfallen zu sehen; dass der Westen vielmehr ein vitales Interesse daran hat, dass Russland in sicheren und garantierten Grenzen existiert.

Was im ersten Moment undenkbar klingt, ist so unwahrscheinlich nicht. Ein verlorener Krieg, kollabierende russische Sicherheitsstrukturen, eine zusammenbrechende Wirtschaft, Diadochenkämpfe um die Nachfolge Putins und jede Menge alter Rechnungen im Inneren wie auch mit Nachbarstaaten – nichts ist undenkbar. Vielmehr muss man mit allem rechnen.

Nun gibt es Stimmen, die meinen, davon dürfe man sich nicht ins Bockshorn jagen lassen. Gerade diese Sorge würde vom Kreml gezielt gestreut, dabei sei das Beste, was Russland passieren könne, dass dieses alte Imperium endlich zerfalle, ein für allemal und also Platz mache für Neues.

Dieses Neue käme aber verbunden mit einer unerfreulichen Frage, die bereits nach dem Zerfall der Sowjetunion für Unruhe gesorgt hat, der Frage, wer denn über das russische Atomwaffenarsenal – dem größten der Welt –, das Sagen habe. Wer garantiert nach einem Zerfall Russlands, dass die Nachfolgestaaten so verantwortungsbewusst wie seinerzeit die Ukraine handeln und ihre Atomsprengköpfe und -kapazitäten internationaler Kontrolle übergeben? Wer kann sicher gehen, dass unter den Nachfolgestaaten nicht ein zweites Nordkorea entsteht, mit wilden, nuklearen Phantasien und – Möglichkeiten?

Kann man es sich noch vorstellen, dass das Atomwaffenarsenal etwa Pakistans bei einer Machtübernahme durch Taliban von US-Amerikanern gesichert und (wohl mit dem Einverständnis etwa Chinas und Indiens) außer Landes gebracht würde, so ist eine derartige Operation in einem Russland im Chaos nur schwer vorstellbar.

Russland ist, das zeigt dieser Krieg, den es in die Ukraine getragen hat und dort mit aller Gewalt austrägt, ein Koloss auf tönernen Füßen. Seine Armee war bereits im Februar/März schon nicht in der Lage, Kiyv zu erobern. Heute, nach neun Monaten Krieg ist diese Armee in einem noch viel schlechteren Zustand. Heute erscheint die Implosion Russlands eine reale Möglichkeit zu sein.

Vielleicht ist Macrons Angebot der Sicherheitsgarantien also ganz anders zu verstehen, nämlich als das Angebot, dass dieser Moment der Schwäche vom Westen nicht gegen Russland genutzt wird; dass Putin und seine Kamarilla nicht in Frage gestellt werden; dass der Westen keinen Regime-Change in Moskau anstrebt; dass Putin die Möglichkeit hat, den Krieg gegen die Ukraine verloren zu geben ohne Russland zu verlieren.

Es ist vielleicht der letzte Exit, der sich der russischen Regierung bietet. (fksk, 04.12.22)