Demokratie

Woche 02 – Geld. Oder gestalten.

Nun also ziehen sie über Deutschlands Straßen und in die Städte, Bauern, die demonstrieren, protestieren und – im Verein mit der in dieser Hinsicht stets verlässlichen Deutschen Bahn – den Verkehr der Republik stilllegen. Darüber mag man sich mokieren, diverse Aussagen und Symbole mag man rundheraus ablehnen, gleichwohl zahlt es sich aus, den frustrierten Landwirten zuzuhören. Denn, so ist zu vernehmen, es ist nicht die gestrichene und nun eilends wieder zugesagte Subvention des Diesels, es ist die Wut über Jahrzehnte agrarpolitischen Stillstands, die sie auf die Straßen treibt.

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Mit der ersten Sichtung von Milchseen und Butterbergen in den späten 70er und frühen 80er Jahren nahm ein Stillstand Form an, der seither mit allen nur erdenklichen Instrumentarien den Überschuss verwaltet. Mit Quotenregelungen, Subventionen, Preisstützungen, steuerlichen Pauschalierungen, günstigen Krediten und Sonderregelungen, die allesamt nur eines zum Ziel haben, den Änderungsdruck abzufedern um nichts grundsätzlich ändern zu müssen.

Ideen, Projekte, konkrete Politik, wie die Landwirtschaft – und mit ihr der ländliche Raum – attraktiv und zukunftsfähig werden können, welche Aufgaben und welchen Stellenwert sie innerhalb der Gesellschaft einnehmen, sucht man indes vergebens. In einer Welt, die sich dramatisch verändert hat (und kaum ein Bereich hat nach 1945 einen radikaleren Wandel durchlaufen als die Landwirtschaft), in einer Welt, die, getrieben durch Globalisierung, Klimawandel und Artensterben, an Veränderungstempo nochmals dramatisch zulegt, herrscht – teuer erkauft – Stillstand.

Damit steht die Landwirtschaft keineswegs alleine. Über Geld und Zuwendungen sucht die Politik allen möglichen Herausforderungen und Problemen beizukommen. Es mangelt im Bildungsbereich? Mehr Geld für die schulische Verwaltung. Es krankt der Gesundheitsbereich? Finanzspritzen sollen es richten. Es weitet sich die Einkommensschere und die Zahl der „Working Poor“ nimmt zu? Mehr Mittel für soziale Ausgleichszahlungen sollen die Unterschiede einebnen. An die Stelle politischer Auseinandersetzung ist die Auseinandersetzung um einen möglichst großen Anteil am Staatshaushalt getreten.

Das geht. Es geht eine Zeit lang, und es geht auch länger, wenn da oder dort nochmals zusätzliche Gelder aufgetan und großflächig verteilt werden. Bis es zur Gewohnheit wird, mit der man dann selbst existenziellen Krisen begegnet.

Die Finanzkrise von 2008 führte zu keiner grundlegenden Reform des Finanz- und Bankenwesens, sie führte aus der durchaus berechtigten Angst vor einer Rezession zu einer Politik des billigen Geldes, die durch die Pandemie der Jahre 2020/21 nochmals intensiviert wurde – allen Warnungen zum Trotz. Nun führt die Politik des billigen Geldes zu Inflation und steigenden Zinsen, denen Österreichs Politik todesmutig mit noch mehr Geld entgegenzuwirken versucht.

Der Griff ins Budget ist ein Armutszeugnis. Er steht für den Unwillen oder, schlimmer noch, für die Unfähigkeit, sich mit Themen eingehend und in der Tiefe zu befassen, auch unerfreuliche Entwicklungen anzugehen und sie solcherart zu gestalten, dass etwas Neues daraus hervorgeht. Der Griff ins Budget offenbart die Selbstaufgabe der Politik – wenn Politik als Gestaltungswille begriffen wird.

An die Stelle der öffentlichen Debatte, die auch schmerzhaft sein mag, die Kraft kostet und bisweilen an die Substanz geht, an die Stelle von Überzeugungskraft und redlicher Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Positionen, ist die irrige Meinung getreten, alles ließe sich durch immer mehr Geld behandeln. Auch Verwerfungen und Konflikte innerhalb einer Gesellschaft.

Ein Irrglaube.

Demokratie verlangt nach echter Auseinandersetzung. Sie verlangt nach Positionen und Positionierungen, nach Überzeugung und Programmatiken, nach validen Zukunftsentwürfen. Vor allem verlangt sie danach, die Menschen in ihren Lebensumständen ernst zu nehmen. Solcherart, dass sie aktiv an der Gestaltung ihrer Verhältnisse teilhaben, dass sie den Wandel prägen anstatt von ihm geprägt zu werden. Die Politik einer demokratischen Gesellschaft stellt nicht ruhig, sie lädt ein, unmittel- und mittelbar Beiträge zu leisten. Sie sucht nach Lösungen, die weit über eine Budgetperiode hinaus wirksam sind (und nutzt ihre finanziellen Mittel mit Bedacht). Vor allem aber begreift sie die Menschen als aktive Subjekte, als gleichwertiges politisches Gegenüber und Partner im Gestalten. Nicht als passive Objekte finanzieller Zuwendungen.

Die Politik – nicht nur in Österreich und Deutschland, vielmehr in weiten Teilen Europas – hat indes alles unternommen, ihren Menschen nichts aktiv zuzumuten. Stattdessen wurde, was immer als Problem erschien, mit immer größeren Geldscheinen nachgerade zugekleistert.

Nun aber lässt sich nicht alles auf Dauer kaschieren, nimmt vielmehr die Perspektivlosigkeit angesichts dieser Politik der Mutlosigkeit überhand. Bis sie in Wut umschlägt, in offenen Protest. Und partout jenen Krakeelern in die Hände spielt, die mit demokratischen Prozessen und Ordnungen so gar nichts, mit autoritärer Macht dafür umso mehr am Hut haben, und siegestrunken schon auf die kommenden Wahlen spitzen. Um dann einen der Ihren als Volkskanzler zu proklamieren.

Es ist nicht zu spät, gegenzusteuern. Nur verdammt hart. Aber allemal alle Anstrengung wert. (fksk, 14.01.2024)

Woche 01 – Wut und Politik

Auch so hat 2024 begonnen: Wütende Landwirte wollten jene Fähre stürmen, auf der der deutsche Wirtschaftsminister und Vizekanzler Habeck aus dem Urlaub in den Alltag zurückzukehren plante. Der Gründe für die bäuerliche Wut sind viele und wurzeln tief, die geplante Verteuerung des Diesel war der Anlass.

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Demonstrationen, einen Empfang mit Trillerpfeifen und deftigen Parolen, das hat es gegeben, das gibt es und wird es geben. Das ist, was eine Demokratie aushalten muss. Wenn aber die Demonstranten versuchen, sich Zutritt zur Fähre zu verschaffen, wenn die Sicherheit und Unversehrtheit eines Menschen, in diesem Fall Herrn Habecks, nicht mehr gewährleistet werden kann, dann ist eine Grenze überschritten. Dann handelt es sich nicht mehr um Demonstranten, dann ist es ein Mob, von Wut gesteuert und außer Rand und Band. In Deutschland im Grunde genommen ein Fall von Landfriedensbruch. Die Ermittlungen laufen.

Damit aber ist das Problem nicht aus der Welt, der Umstand, dass immer wieder und immer öfter Proteste in Gewalt umschlagen, dass Galgen, Morddrohungen, Vernichtungsphantasien bei Aufmärschen schon zum gewohnten Bild werden, dass es vor den Häusern und Wohnungen von Politikern und anderen, in der Öffentlichkeit stehenden Menschen, Zusammenrottungen gibt.

Die Zeiten sind nicht einfach. Das waren sie nie, so komplex, wie sie sich derzeit gestalten, waren sie indes bisher selten. Entsprechend groß sind Unsicherheit und Verunsicherung. Weit verbreitet ist zudem der Eindruck, schlicht kein Gehör zu finden, zur Seite gedrängt zu werden, zu den Verlierern des Wandels zu zählen. Und das in einer Demokratie, die doch eigentlich Mitsprache garantiert, mithin die Möglichkeit, gemeinsam mit anderen die Lebenswelt gestalten zu können.

Seit vor bald 14 Jahren Stéphane Hessels „Empört Euch“, ein schmales Pamphlet wider die herrschenden Zustände, die allen Idealen der französischen Résistance Hohn sprachen (und sprechen), erschienen ist, ist die Empörung als Haltung akzeptiertes Mittel der Politik. Während Hessel mit seiner Streitschrift noch das Ziel verfolgt, zu den als verloren wahrgenommenen Idealen zurückzukehren, ist die real gelebte Empörung alsbald ziellos geworden. In Erscheinung trat sie seither als Wutoma, als Wutbürger, als Wutwirt, als Wutwasweißichnochalles, die ihre Auftritte in Funk und Fernsehen hatten, die ihre ungefilterte Wut massenmedial zur besten Sendezeit zu Markte trugen.

Bisweilen sind Empörung und Wut ein notwendiges Ventil, sich Luft zu verschaffen. Im besten Fall werden sie zu Impulsen, tatsächlich gestaltend aktiv zu werden, sich politisch oder gesellschaftlich zu engagieren, seiner Stimme im demokratischen Rahmen Gehör zu verschaffen.

Die Empörung der letzten Jahre ist das Gegenteil. Sie ist blind vor Wut. Sie will zerschlagen, zertrümmern, sie will einen Rausch erleben, der andere zittern macht, der Macht verleiht. Wenigstens für den Moment.

Sie verliert sich zusehends in tiefinneren Überzeugungen, die in Verschwörungsmythen wurzeln oder in dem Gefühl, zu den Wenigen zu zählen, die die Wirklichkeit tatsächlich durchdringen und also sehend und wissend sind. Und – sie lässt sich instrumentalisieren. Von politischen Kräften, die darin eine Kraft erkennen, die sie ins Zentrum der Macht tragen kann.

Darauf baut der Erfolg der Freiheitlichen in Österreich auf, die sich an die Spitze der Coronawütenden gesetzt hat, jede noch so krude Theorie zu ihren Gunsten zu wenden weiß und offen, frank und frei verkündet, wer unter ihrer Regierung nichts mehr zu lachen hat. Darauf baut der Erfolg der AfD auf, jener von Frau Le Pen und der Schweizer Volkspartei. Daraus speist sich auch der Zuspruch zu Kommunisten auf regionaler Ebene in Österreich, zur extremen Linken in Frankreich und zur rinkslechts schillernden Frau Wagenknecht in Deutschland. Wut stärkt ausschließlich und nur die politisch radikalen Ränder. Das ist eine Konstante.

Wenn aber die Wut nur das Geschäft der Extreme befördert, ist die politische Mitte gefordert, Position zu beziehen. Darauf zu setzen, dass die Wut verrauchen würde, gibt man ihr nur die Möglichkeit, durch das Land zu ziehen und sich auf allen nur verfügbaren Plätzen zu manifestieren, greift zu kurz. Zu hoffen, sie irgendwie mit Zugeständnissen befrieden zu können, stachelt lediglich ihren Hunger nach mehr Zugeständnissen an und führt also in die Irre. Dann wird sie noch mehr zur treibenden Kraft, deren Sog immer weiter ausgreift.

Mit dieser Wut umzugehen ist kein Leichtes, genau deswegen sind Grenzen zu setzen. Grenzen, die neben der Gesetzeslage das in einer Demokratie produktive Ausmaß an Protesten definieren. Über die Konsens besteht und die verständlich und nachvollziehbar darlegen, wann sie überschritten sind, und ab welchem Zeitpunkt, ab welcher Eskalationsstufe man sich aus dem gesellschaftlichen Diskurs herausnimmt. Dazu zählt auch, dass das Verhalten der Seitenlinie kritisch betrachtet wird, die Wortwahl in Kommentaren großer Medien, die Kritik ad personam anstelle der Kritik in der Sache, der Hang zu Häme, zu Gering- und Lächerlich machen politischer Gegner gleich welcher Couleur, die permanente Zuspitzung der Pointe wegen. Das sind die Echoräume der Wut, die sie nicht allein spiegeln als vielmehr bestärken und verstärken, die sich mitreißen lassen, die im Sog des Geschehens ebendiesem zusätzlich Schwungkraft verleihen.

So wie einmal mehr die Politik gefordert ist. Sich zu erklären, direkt und ohne Social-Media-Filter, vor Ort und nicht allein im Hauptstadtstudio. Verantwortung zu übernehmen, zu leben und zu exekutieren. Und klar zu sein. In der Sache, in den Vorhaben, in den Perspektiven. Mit Schlingern ist der Wut nicht beizukommen. (fksk, 07.01.24)

Woche 48 – Weckruf für die Mitte

Nun also die Niederlande. Ein politischer Erdrutsch und Mijnheer Wilders steht vor dem Einzug ins Catshuis in Den Haag. Frohlocken Rechtsaußen. Und Appetit auf mehr, auf Thüringen, auf Sachsen, auf Österreich, Frankreich und bald ganz Deutschland. Katzenjammer und Verzagen derweilen unter Sozialdemokraten, Christdemokraten, Grünen und Liberalen, also in der Mitte, die schmächtiger und schmächtiger wird und mit den Wählern hadert, die den Rattenfängern der radikalen Ränder folgen.

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Vor allem aber Unverständnis. Wie, bei allem Änderungsdruck, bei allen Sorgen, die manifest und nicht nur gefühlt sind, ausgerechnet jenen Stimmen zufliegen, die alles, was doch erreicht wurde, in Frage stellen. Die zurück wollen in die Fünfzigerjahre oder die Dreißiger, die von Festungen reden und von einer heilen, homogenen Welt, ohne diese Ziele denn je erreichen zu könne. Davon könnte Frau Meloni in Rom durchaus ein Lied singen. Das könnten auch die Freiheitlichen in Österreich, die bislang bei jeder ihrer Regierungsbeteiligungen seit 2000 krachend gescheitert sind. Die dennoch an das Tor des Palais am Ballhausplatz klopfen, die feixend den kommenden Volkskanzler aus ihren Reihen proklamieren.

Und wirft man einen Blick in die Kommentarspalten, hört man Stimmen aus der Politik, dann scheint es, als hätte man sich damit denn auch schon abgefunden. So schlimm, ist da zu hören, würde es wohl nicht werden. Es bräuchten die Rechtsrechten doch einen Koalitionspartner, der sie zügeln würde und zähmen. Andernorts spricht man ihnen bereits nach dem Mund, da waldhäuselt die Landeshauptfrau von Niederösterreich ungeniert, während ihr Salzburger Pendant sich lieber in hochnotpeinliches Schweigen hüllt und der Amtskollege aus Oberösterreich seinen freiheitlichen Partner lobt, derweilen der Medien, Kunst und Kultur ausrichtet, dass sich bald schon der Wind drehen werde im Land. Und dass es dann ungemütlich werde.

Das ist deutlich.

Die Mitte der demokratischen Gesellschaft, mithin die große Mehrheit der Menschen dieser Republik und auch der Union, hofft unterdessen. Hofft, dass es sich bei den nächsten Wahlen doch noch einmal ausgehen werde, dass sich Mehrheiten welcher Art auch immer finden werden lassen, die eines nur zusammenführt, eben die Rechtsrechten zu verhindern.

Dieses Wechselspiel aus Hoffen und Bangen geht in Österreich so lange schon wie in keinem anderen europäischen Land. Seit 1986 treibt die extreme Rechte die demokratische Mitte vor sich her, legt Axt an die Institutionen der Republik, höhnt, schmäht und untergräbt die Fundamente der offenen Gesellschaft. Und die Mitte weiß nicht darauf zu reagieren.

Sie ist gefangen im ewigen Zustand des Verteidigens.

Bisweilen hat es den Anschein, sie habe es sich darin wohnlich eingerichtet.

Dabei ließe sich von den Rändern durchaus lernen. Letztlich wollen die Menschen etwas gewinnen. Zukunftsperspektiven zum Beispiel. Die Gewissheit, dass es jemand ernst mit ihnen meint und sich nicht in Floskeln verliert. Klarheit über das, was kommt, was damit verbunden ist, und wie sich das Ergebnis gestalten lässt. Im Grunde wollen die Menschen doch gestalten, mitgestalten, am Gestalten teilhaben können.

Etwas, was die demokratische Mitte, die so sehr damit beschäftigt ist, gegen den rechtsrechten Rand anzustehen, ihnen nicht bietet. Oder, wenn sie es bietet, es nicht offen ausspricht, keine Akzente setzt.

Darum aber geht es. Es geht um Programme, um Ideen und Positionen und es geht darum, sie akzentuiert, pointiert und dann und wann auch lautstark zu vertreten. Es geht darum, den öffentlichen Raum der gesellschaftlichen und politischen Debatte zu besetzen und den radikalen Recken streitig zu machen.

Nicht, indem man immer nur auf ihre Themen eingeht. Sondern indem man die essenziellen Themen selber setzt.

Deren gibt es genug. So, wie es genügend Wissen, Expertise, Modelle und Möglichkeiten gibt, selbst große und größte Herausforderungen anzugehen. Das stimmt für den Klimawandel, für künstliche Intelligenz und Digitalisierung, das gilt für Migration, Integration und Arbeitswelten ebenso wie für Sicherheit und Zusammenarbeit. In allen diesen Bereichen und in noch viel mehr lassen sich Wissen, Erfahrung, Technik, Technologie, Verhaltensökonomie und was der Instrumentarien unserer an Instrumenten reichen Gesellschaft und Zeit noch mehr sind, aktiv einsetzen. Als Gelegenheit, etwas zu tun. Subjekt zu sein, nicht nur Objekt.

Demokratie ist das Versprechen, mitgestalten zu können, ist die Garantie, Entwicklungen und Entscheidungen nicht passiv über sich ergehen lassen zu müssen, als vielmehr daran teilzuhaben. Dieses Wissen, die Sprache dazu und auch das Instrumentarium muss die demokratische Mitte den Menschen anbieten. Gepaart mit Leidenschaft, mit klaren Worten, verständlichen Botschaften. Nicht schönfärberisch, aber begründet zuversichtlich.

Es muss die Mitte ihre Ecken und Kanten finden, ihre unterschiedlichen Facetten, sie muss erkennbar und unterscheidbar werden, damit sie wahr- und ernstgenommen wird. Als Bündelung jener gesellschaftlichen und politischen Kräfte, die zukunftszugewandt sind, die mit- und untereinander um die Gestaltung debattieren, die nicht in der Vergangenheit oder deren Versatzstücken, nicht in Nostalgie und Rückwärtsgewandtheit Sicherheit wähnt.

Eindämmen lassen sich Wilders, Le Pen und Konsorten längst nicht mehr. Es geht darum, ihnen mit aller Kraft den Boden zu entziehen. Mit mutiger, konfliktfreudiger, akzentuierter Politik, mit Zukunftskonzepten und – klaren Worten. Aus der Mitte der Gesellschaft. (fksk, 3.12.23)

Woche 10 – Europäische Standortbestimmung

Es ist ein Bild, das man nicht so leicht vergisst. Unter all den tausenden Demonstranten, die in Tiflis gegen das „Fremde Agenten“-Gesetz auf die Straße gehen, ist diese eine Frau, die das Sternenbanner der EU schwenkt. Bis der Strahl des Wasserwerfers sie trifft und zurückdrängt. Aber sie bleibt nicht alleine, ein Mann stärkt ihr den Rücken, gemeinsam stemmen sie sich gegen den nächsten Strahl, werden abermals zurückgedrängt, bis immer mehr Menschen sich um die Frau mit dem Sternenbanner scharen und gemeinsam vordrängen.

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Die Regierung in Georgien hat den Gesetzesentwurf, der sich am russischen Vorbild orientierte, zurückgezogen. Das Regime in Moskau klagt, der Westen inszeniere in der Ukraine die nächste Farbenrevolution. Begleitet wird der Vorwurf von der kaum verhohlenen Drohung einer Intervention.

Währenddessen hört der Widerstand gegen das Mullah Regime in Iran nicht und nicht auf. Es gibt Demonstrationen, es gibt tausende Akte des Ungehorsams, es schaffen die Kleriker und ihre Schergen es nicht, das Land in Friedhofsruhe zu stürzen. Und in der Ukraine wird immer noch um Bakhmut gekämpft. Was als Demonstration russischer Macht gedacht war und binnen Tagen hätte erledigt sein sollen, ist dank des ukrainischen Widerstands zu einem Krieg geworden, der sogar das Auseinanderbrechen Russlands in den Bereich des Möglichen rückt.

Das alles sorgt für Nervosität. In Russland wie auch andernorts. Es treffen, auf Initiative Chinas, einander saudi-arabische und iranische Unterhändler, sie reden miteinander, sie entdecken gemeinsame Interessen. Im Angesicht einer möglichen demokratischen Revolution in Iran finden sunnitische und schiitische Hardliner schnell zu einer gemeinsamen Basis. Kein Wunder. China wiederum versichert Russland seiner Solidarität und wirft den USA vor, eine aggressive Politik zu verfolgen.

Es ist bemerkenswert. Vor drei Jahren erst wurden die Stärken der autoritären und diktatorischen Regime im Vergleich zu den demokratischen Gesellschaften hervorgehoben, besprochen, von manchen offensiv bewundert und als Auftakt des unweigerlichen Niedergangs des Westens interpretiert. Und jetzt das. Da nehmen ein Land und seine Menschen einen Krieg auf sich, um ihre mühsam erworbenen demokratischen Errungenschaften gegen einen Aggressor zu verteidigen. Da gehen in Iran Hunderttausende wieder und wieder und wieder auf die Straße, um für Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung und Menschenwürde einzustehen, auch mit ihren Leben und ihrer Gesundheit. Da strömen Tausende in Georgien auf die Plätze und Straßen der Hauptstadt, um einen Angriff auf ihr demokratisches System abzuwehren. Und in Belarus ringen immer noch Menschen allen Verfolgungen und Strafen zum Trotz darum, ein demokratisches Gemeinwesen zu erlangen.

Der Siegeszug des autoritären Staates, er kommt doch nicht so recht in Schwung. Im Gegenteil. Eine freie Ukraine stärkt die Opposition in Belarus und strahlt als Gegenentwurf zum Moskauer Modell bis tief nach Russland. Ein gefestigt demokratisches Georgien macht Russland als Ordnungsmacht im Kaukasus obsolet. Und ein demokratischer Iran stellt die Verhältnisse im Nahen Osten auf den Kopf, als die Religion als Machtfaktor entfiele. Im Grunde also müssten allen voran die europäischen Staaten und die Union alles tun, diese Bewegungen zu unterstützen. Und sei es nur, dass ihnen mehr Öffentlichkeit in Europa und damit in der Welt zuteil wird.

Hier nun hakt es. Europa unterstützt die Ukraine mit Waffensystemen, Munition und Ausbildung, mit humanitärer Hilfe und mit Geld. Vor allem aber steht Europa geeint gegen die russische Aggression. Das darf nicht gering geschätzt werden.

Geht es hingegen um Belarus, um Georgien, um Iran wird Europa leise. Sehr leise und wendet sich anderen Themen zu. Ganz so, als wüsste Europa mit all der Veränderung in seiner unmittelbaren Nachbarschaft nichts anzufangen.

Es braucht keine Intervention der EU, es braucht auch keine gutgemeinten Ratschläge, keine Bevormundung, kein Besserwissen, das von Europa aus an die Menschen in Iran, Georgien, Belarus und der Ukraine gerichtet wird. Aber es braucht die Aufmerksamkeit, die Rezeption dessen, was geschieht. Zu wissen, dass man nicht alleine gegen ein Regime steht, dass vielmehr die Augen der Welt auf eine Bewegung und ihre Menschen gerichtet sind, dass ihr Tun und Handeln ebenso gesehen und registriert werden wie das der Regime, gegen die sie sich wenden, ist essenziell.

Es bedarf dazu einer europäischen Standortbestimmung und klarer, unmissverständlicher Positionen gegenüber autoritären Regimen. Bei aller Diplomatie, bei aller Bereitschaft, strittige Punkte in Gesprächen zu behandeln, ist Eindeutigkeit unverzichtbar. Europa kann und darf seine Grundwerte der Menschenrechte und Menschenwürde nicht länger je nach Opportunität situationselastisch interpretieren. Das höhlt sie aus, entwertet sie und macht sie zur billigen Verhandlungsmasse.

Der Europäischen Union öffnet sich ein Fenster, sich selbst und ihre Beziehungen zu ihren Nachbarn substanziell neu zu definieren. Nach außen, indem die Union und ihre Mitgliedstaaten unmissverständlich für Grundrechte und -werte einstehen. Auch wenn das manchen Geschäftsbeziehungen nicht unbedingt zuträglich ist. Vor allem aber nach innen, indem Demokratie und die Werte der demokratischen Gesellschaften bewusst in aller Konsequenz gelebt werden. Das ist nicht immer einfach. Aber es ist grundnotwendig – auch gegenüber den Menschen in Iran, Georgien, Belarus und der Ukraine, die dafür ihre Leben einsetzen. (fksk, 12.03.23)

Woche 07 – Nehammers Flucht aus der Verantwortung

Russlands Krieg geht in seiner 51. Woche mit verstärkten Angriffen auf breiter Front und verlustreichen Kämpfen rund um Vuhledar und Bakhmut, mit erneutem Raketenbeschuss ziviler und kritischer Infrastruktur in der Ukraine einher. Den Vorwurf, 6.000 ukrainische Kinder in Umerziehungslager nach Russland deportiert zu haben, weist die Regierung in Moskau zurück. Im Rahmen eines Putin-Interviews dankt eine Journalistin ihrem Präsidenten für die Möglichkeit, einen 15jährigen aus Mariupol adoptiert haben zu können. In russischen TV-Shows erstrecken sich die Ambitionen mittlerweile weit gen Westen, die DDR solle als eine Art russischen Territoriums wiederhergestellt werden. Unterdessen sind dort im Westen Exponenten von ganz rechts und ganz links unverdrossen von den lauteren Absichten Putins überzeugt und fordern also sofortige Verhandlungen ein.

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Um Versöhnung müht sich auch Österreichs Kanzler Nehammer. Konkret um die Aufarbeitung der Covidjahre. Versöhnen will er, Verletzungen heilen, die Lager wieder zusammenführen. Darin wohl sieht er seine Rolle bis zu den Wahlen im Jahr 2024. Man darf davon ausgehen, dass es ihm damit auch ernst ist.

Weswegen es gilt, dem Kanzler ganz genau zuzuhören, wenn er davon spricht, dass im Zuge dieses Prozesses die Experten sich und ihre Entscheidungen erklären müssten. Wobei Nehammer das nicht im Konjunktiv formuliert, er setzt den Indikativ ein. Er gibt in bemerkenswerter Offenheit die Linie vor, wer seines Erachtens ursächlich an den Verwerfungen in der Gesellschaft Schuld hat und dafür Verantwortung trägt: Es sind die Experten, die Mediziner, Gesundheitsmanager, Komplexitätsforscher, es ist die Wissenschaft.

Die Politik, die Regierung, insbesondere der große Koalitionspartner trägt dafür keine Verantwortung. Folgt man der Aussage des Kanzlers, haben sie nur getreulich getan, was ihnen gesagt, um nicht zu sagen, aufgetragen wurde.

Das ist nichts weniger als die Bankrotterklärung eines Regierungschefs und Politikers.

Politik, die sich als nicht verantwortlich sieht, die davor zurückschreckt, für ihre Handlungen einzustehen, die das noch dazu mit der tiefsitzenden österreichischen Abneigung gegen alles, was aus dem Umkreis der universitären Forschung kommt, garniert, nimmt sich aus dem demokratischen Spiel. Mehr noch, sie diskreditiert nicht nur die Wissenschaft und beschädigt in einem Aufwaschen alle anderen politischen Akteure – sie legt Axt an die tragenden Säulen der Republik.

Nehammer steht damit nicht alleine. Die Flucht aus der Verantwortung ist bei vielen Vertretern der politischen Klasse Österreichs zu beobachten. Sie geben sich als von missgünstigen Umständen getrieben, bevormundet und ihres wichtigsten Daseinsgrundes, den Menschen Freude zu bereiten und sie vor den Fährnissen des Alltags und allen Zumutungen zu bewahren, beraubt. Von Experten oder Brüssel oder was es der extern waltenden Kräfte noch geben mag. Sie geben sich als ohnmächtige Opfer der herrschenden Umstände. Aktiv zu gestalten, kommt ihnen nicht in den Sinn.

Nach Gestaltung aber verlangt die Demokratie. Sie baut auf gesellschaftlicher Teilhabe auf und darauf, dass gewählte Vertreter über einen bestimmten Zeitraum Verantwortung übernehmen. Sie bedarf der Akteure, die sich, ihre Arbeit, ihr Streben, ihre Ziele, ihr Handeln und Tun den Menschen erklären, die dafür einstehen, bereit sind dafür zu streiten und die zu überzeugen suchen, die nach bestem Wissen und Gewissen handeln. Und – die auch irren können.

Das alles macht die Demokratie bisweilen anstrengend und anspruchsvoll. Das macht sie gleichzeitig lebendig und einzigartig. Sie ist das einzige politische System, das den Irrtum als Faktor beherrschbar macht, da er im Zuge von Wahlen korrigiert werden kann. Sie ist ein lernendes System. Wenn man denn zu lernen bereit ist. Aus Entwicklungen, aus Erfolgen wie aus Fehlern.

Das freilich setzt Verantwortungsbewusstsein voraus. Sowie die Bereitschaft, Verantwortung tatsächlich zu übernehmen.

Suggerieren hingegen Politiker, zumal Regierungspolitiker, sie wären innerhalb eines demokratischen Systems nicht verantwortlich, so entziehen sie ihm sein wesentliches Element der Möglichkeit der Korrektur in Form der Abwahl der Verantwortungsträger. Sie stellen das demokratische System damit in letzter Konsequenz in Frage.

Daraus folgt ein schleichend anschwellender Vertrauensverlust der Wähler. Wo sie sich ihres Rechts, Verantwortung zuzuteilen und damit an der politischen Gestaltung teilzuhaben, beraubt sehen, ziehen sie für sich Schlüsse. Manche, indem sie sich zurückziehen und an den demokratischen Prozessen nicht mehr teilnehmen. Andere, indem sie sich den Rändern des politischen Spektrums zuwenden, jenen, die versprechen, dass mit ihnen alles anders wird, zumal das System. Denn, dieser Umstand ist dokumentiert, auch und gerade in der Demokratie erwarten die Menschen Führungsqualitäten.

Mithin nicht die Klage über die obwaltenden Umstände, nicht das Abschieben von Entscheidungen an andere, nicht das schlichte Verwalten und Organisieren des Staates und der Republik. Die Menschen wollen Antworten, auch solche, denen man nicht zustimmt, über die man diskutieren, streiten kann. Sie erwarten Eindeutigkeit, Klarheit, Kompetenz und – Verantwortungsbewusstsein.

Bezeichnet Nehammer nun sich und seine Regierungskollegen als „hörig“ gegenüber Experten und delegiert die Aufarbeitung an eine Kommission, anstatt das Parlament und die Öffentlichkeit aktiv darin einzubinden, so befeuert er die Entfremdung, der er doch eigentlich entgegentreten will. Dazu braucht es aber auch deutlich mehr als eine Rede über die Zukunft und etwas Marketing. Es braucht konkrete Handlungen und Tun, die Bereitschaft zu reden, zu argumentieren, sich der Kritik zu stellen, es braucht klare Positionen. Und es verlangt nach gelebter Verantwortung.

Die aber flieht der Kanzler. In aller Konsequenz. (fksk, 19.02.23)

Woche 23 – Demokratien unter Druck

Woche fünfzehn. Die Schlacht um Sjewjerodonezk im Donbass dauert an, inzwischen bezifferen die Ukrainer ihre täglichen Verluste auf bis zu 200 Mann. Über die Russen sagt ein Sprecher freilich: „Sie sterben wie die Fliegen“. Unterdessen versichert Präsident Macron der Ukraine die Solidarität Frankreichs, wobei er auch auf Waffenlieferungen verweist. Aus Deutschland verlautet, Kanzler Scholz wolle noch im Juni nach Kiew reisen. Es stehen auch schon fünf Marder Schützenpanzer zur Auslieferung bereit, es ist anzunehmen, dass Scholz lange vor den fünf Mardern in der Ukraine ankommt. In Moskau sieht Putin Parallelen zur Zeit Peters des Großen, der, wie kaum ein anderer, in Kriegszügen Russlands Grenzen verschoben hat. Ein Vorbild.

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Auf dem „Time to Decide Europe Summit“ ging der russische Journalist Maxim Trudoljubow auf den „permanenten Ausnahmezustand“ in Russland ein, ein Zustand, ohne den das System Putin gar nicht überlebensfähig wäre. Es enthebt der Zustand der Ausnahme das Regime und auch Putin jeglicher Verantwortung. Die Regierung ist nichts und niemandem Rechenschaft schuldig, sie agiert vollkommen losgelöst von allen Kontrollen, Debatten und Beschränkungen nach Gutdünken. Und der Krieg, so Trudoljubow, ist dafür die notwendige Voraussetzung. In einem Beitrag auf der Plattform „Dekoder“ postuliert Trudoljubow: „Krieg ist für Putin die natürliche Form der politischen Existenz. Solange er an der Macht ist, wird der Krieg nicht aufhören. Der Krieg und sein Regime sind untrennbar miteinander verbunden.“

Während der Konferenz am 20. Mai ist es nicht nur der Chefredakteur des – inzwischen im Exil erscheindenden – Mediums „Meduza“, der den Blick auf diesen speziellen Charakterzug des Putinschen Systems lenkt. Auch Ivan Krastev beschreibt an diesem Tag Putins Krieg als einen Krieg zum Erhalt der russischen Identität, die er als kompletten Gegenentwurf zum westlichen Modell versteht. Nicht nur als Gegenentwurf, vielmehr als Kampfansage, die Staat und Menschen aneinander schweißt. Indem Putin, so Krastev weiter, einen langen Krieg von niedriger Intensität initiiert, erhält er die russische Identität.

Sowohl Krastev als auch Trudoljubow blicken der Zukunft Russlands nicht gerade optimistisch entgegen.

Nur beschränkt sich dieser „permanente Ausnahmezustand“, der „lange Krieg niedriger Intensität“ nicht allein auf Russland, beides wirkt sich auf die Nachbarschaft aus, auf die gesamte europäische Nachbarschaft, die immer noch nicht so recht weiß, wie mit dieser Situation umzugehen ist, die bis vor kurzem noch der Meinung war, dass Handel auch Wandel bedeute und die immer noch hofft, der Krieg in der Ukraine möge bald zu einem Ende kommen, auf dass man wieder anknüpfen könne an den Beziehungen, die durch den Krieg nun unterbrochen sind.

Gemeinhin ist zu lesen und zu hören, Putin habe mit seinem Angriff auf die Ukraine nur erreicht, dass die Europäische Union genauso wie die Nato so einig und geschlossen aufträten wie seit langem nicht mehr. Mit Blick auf Ungarn und die Türkei sind hier Zweifel angebracht. Und noch mehr Zweifel sind angebracht, zieht sich der Krieg in der Ukraine in die Länge. Über das Jahr hinweg bis tief in das nächste.

Selbst wenn die unmittelbaren Kampfhandlungen in der Ukraine stoppen sollten, kann von Frieden noch keine Rede sein. So wenig wie davon, dass das Regime Putin damit Geschichte würde. Worauf sich Europa einstellen muss, ist dieser „permanente Ausnahmezustand“, mithin eine Periode der Unsicherheit, Unberechenbarkeit, gebrochener Abkommen und Verträge, unablässiger Provokationen und Scharmützel aller Art, von Unruhen auf dem Balkan über digitale Attacken bis hin zu einem intensivierten Propagandakrieg. Damit unterscheidet sich dieser Konflikt mit Russland grundlegend vom Kalten Krieg zwischen Ost und West, der in seiner Unbeweglichkeit und starren Frontstellungen höchst berechenbar war.

Dieser Konflikt addiert sich zu den Herausforderungen des Klimawandels, der weltweiten Migrationsbewegungen, der Digitalisierung und den Auswirkungen aller drei auf die soziale und politische Struktur der westlichen Demokratien. Und hier wird es spannend.

Sind der Krieg und Putins Macht untrennbar miteinander verbunden, so verhält es sich in den Demokratien genau umgekehrt. Eines der zentralen Versprechen demokratischer Gesellschaften ist die Minimierung kriegerischer Auseinandersetzungen. Demokratien kooperieren untereinander und miteinander, sie pflegen den Kontakt und den Austausch und auch den Kompromiss. Kurz, sie vermeiden es, ihre Bürger in einen Krieg zu entsenden und zu verwickeln.

Wie nun die demokratischen Systeme Europas auf einen Dauerkonflikt, der auf den unterschiedlichsten Ebenen ausgetragen wird, reagieren, ist vollkommen unklar. Vor allem wie dieser andauernde Konflikt sich – im Verein mit Klimawandel, Migration und Digitalisierung – auf Strukturen, Institutionen und die politische Kultur auswirken wird.

Eines erscheint jetzt schon sicher zu sein, die bisherige Art der europäischen Demokratien mit Krisen umzugehen, indem man die Symptome finanziell zu behandeln trachtet, ohne je das zugrundeliegende Problem zu lösen, diese Art der Politik stößt an ihr Ende. Sie war nie richtig, als sie stets auf Zeitgewinn ausgerichtet war und rasenden Stillstand zur Folge hatte.

Das rächt sich nun.

Mit Beschwörungen der guten alten Zeit ist es keinesfalls getan. Es werden sich die Demokratien Europas darum kümmern müssen, auf große Herausforderungen große Antworten zu geben. Ohne Scheu davor, mit liebgewonnen Gewissheiten zu brechen. Bereit, die demokratischen Prozesse darauf auszulegen, schneller als bisher zu Resultaten zu gelangen, sie dabei so transparent wie nur möglich anzulegen, sie so zu stärken, dass ein „permanenter Ausnahmezustand“ sie nicht zu erschüttern vermag. Und schon gar nicht in Frage stellen kann. (fksk, 12.06.22)

Woche 07 – Freedom Day

„Freedom Day“, etwas Einfacheres, Plakativeres und Maulfauleres fällt der Politik und den ihr verbundenen Blättern nicht ein, geht es um den Zeitpunkt, zu dem die Masken fallen und mit ihnen alle Beschränkungen der letzten zwei Jahre. Weil es so schön ist, weil Großbritannien bereits seinen Freedom Day gefeiert hat (letztes Jahr schon), weil andere Länder ihn gleichfalls planen und herbeisehnen.

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Freiheit! Tag der Freiheit. Und alles ist wieder gut.

Ist es nicht. Natürlich nicht. Nicht nach zwei Jahren, die die Gesellschaft im Wortsinne in ihrem Innersten verwundet haben. Vielmehr könnte man sagen, dass nach diesen zwei Jahren nichts mehr ist, wie es war. Wenngleich auch diese Aussage schal schmeckt und abgestanden, so oft wurde sie bereits getätigt.

Also, „Freedom Day“. Warum auch nicht? Klingt doch gut. Und lässt die Gesellschaft, Impfbefürworter wie -gegner einmal auf- und durchatmen. Man geht gemeinsam auf ein Bier oder ein Glas Wein, lässt alle Differenzen beiseite, vergisst auch, was in der Zwischenzeit noch so alles ans Tageslicht gekommen ist, freut sich des Lebens und dankt der Politik und ihren Repräsentanten, dass sie der Allgemeinheit diesen wunderbaren Tag gönnen.

Insofern ist die Verwendung dieses Begriffes, „Freedom Day“, geradezu verräterisch. Sie offenbart dem p.t. Publikum, was die verantwortlichen Politiker und -innen sich wünschen: Dass alles wieder gut ist. Vergeben, vergessen, verziehen.

Was ihnen verziehen, oder wenigstens nachgesehen, werden kann, ist, dass sie vor zwei Jahren mit einer Situation konfrontiert waren, wie sie sie noch nie erlebt hatten. Was das Lavieren, die Unsicherheit, den Alarmismus, die Übertreibungen und Zuspitzungen der ersten Zeit erklärt. Da wie dort. Und manch einer, der heute lauthals nach der Freiheit verlangt und die Gesellschaft wie auch die Republik schon in den Fängen einer finsteren Diktatur wähnt, manch einer dieser hatte zu Beginn noch viel härtere Maßnahmen eingefordert.

Sei´s drum. Es ändern sich die Umstände, mit ihnen ändern sich Zugänge und Sichtweisen. Daran wäre denn auch nichts auszusetzen. Wäre, hätten sich die Zugänge denn wirklich geändert. Exakt daran freilich kommen begründete Zweifel auf, lässt man die Performance der Regierung hierzulande, wie auch jene anderer Regierungen anderer Länder Revue passieren. Was im Großen und Ganzen geboten wurde, war ein Lavieren, ein Hoffen und Versprechen, es stünde der Durchbruch im Kampf gegen die Pandemie unmittelbar bevor und wenn nicht morgen, dann übermorgen...

Hier kommt nun die Sprache ins Spiel. Die Sprache, die – und jetzt geht es tatsächlich um die österreichische Regierung –, gegenüber dem Souverän, dem Volk, gepflogen wird.

In zwei Jahren hat es die Bundesregierung mitsamt ihrer drei Kanzler und zwei Gesundheitsminister nie geschafft, mit den Menschen in einen Dialog einzutreten. Vielmehr wurde verkündet, kundgetan, versprochen und gefordert, was jeweils politisch opportun erschien und erscheint, nicht unbedingt was gesundheits-, wirtschafts-, sozial- oder gesellschaftspolitisch vonnöten gewesen wäre. Anstatt zu diskutieren und durch die Debatte die Basis eines gemeinsamen Verständnisses aufzubauen, auf der wiederum Maßnahmen aufsetzen können, die von dem Gros der Bevölkerung mitgetragen werden, haben sich die maßgeblichen Politiker im Marketing versucht. Weil es einfacher ist. Weil man sich die Auseinandersetzung erspart, die intellektuelle Redlichkeit und Kapazitäten voraussetzt. Und weil es gefällige, eingängige Schlagzeilen im Boulevard produziert.

Zugegeben, das ist an und für sich nichts Neues. Die Unlust an der Diskussion, die Verarmung der Sprache im öffentlichen Diskurs hat sich lange schon etabliert. Sie ist keineswegs das herausragende und erstmals auftretende Merkmal dieser Regierung oder dieser Generation an Politikern. Es ist letztlich auch müßig, nach dem Zeitpunkt zu suchen, zu dem diese Entwicklung einsetzt. Diskussions- und debattenfreudig hat sich die österreichische Politik ohnedies noch nie gezeigt. Dass Diskussion aber durch den Austausch von Marketingworthülsen, twitterfähigen Kurzaussagen, durch den Rückzug auf Schlagworte und die permanente Produktion aufwändiger Nebelwände zur Ablenkung von essentiellen Themen fast zur Gänze ersetzt worden ist, hat gerade in den letzten zwanzig Jahren nochmals an Gewicht gewonnen.

Das gilt für die Gesellschaft wie für die Politik. Es ist der öffentliche Diskurs zu einem Gegenüberstellen von Dogmen verkommen. Argumente und Sichtweisen, die der eigenen nicht entsprechen, die sie, schlimmer noch, in Frage stellen, werden als grobe Beleidigung erfahren und rundheraus abgelehnt. Die Bereitschaft, sich mit dem Anderen auseinanderzusetzen, ist auf allen Seiten zurückgegangen. Hüben wie drüben, rechts wie links, oben wie unten.

Tatsächlich ist diese Republik – und dieser Befund gilt gleichermaßen für weite Teile der europäischen Öffentlichkeit – in einen Zustand der fortgeschrittenen Denkfaulheit abgerutscht, der beängstigende Ausmaße angenommen hat.

Wo es zu anstrengend ist, sich mit intellektuellen Zumutungen auseinanderzusetzen, dort greift man flugs zu gefälligen Worten und Begriffen, die allen Kanten ihre Schärfe nehmen, die sie ablutschen, geschmeidig und lieblich machen. Da wird aus einer Krise unversehens die Herausforderung, oder besser noch, die Chance, die es zu nutzen gilt. Es wird die Krise, es werden ihre Auswirkungen damit auch gleich gar nicht mehr zur Kenntnis genommen. Man will ja positiv gestimmt sein und der Zukunft zugewandt. Dann und wann, wenn die Situation danach verlangt, dann darf es auch einmal martialisch klingen, wenn die Politik vor die Medienöffentlichkeit tritt und verkündet, sie werden tun „whatever it takes“, um ein Ziel zu erreichen. Da klingt Tatkraft durch, ohne je spezifiziert werden zu müssen.

Der Austausch im Gespräch, in der Rede, in der Diskussion erfolgt nicht mit der Absicht, mehr zu erfahren, Perspektiven zu öffnen, den Horizont zu erweitern, das eigene Wissen auf den Prüfstand zu stellen und auch die eigene Argumentation, alles das erfolgt vielmehr unter dem Aspekt des unbedingten Rechthabens. Weil es so ist. Und basta.

Manchmal vielleicht auch aus einer Unsicherheit heraus, wenn die deutsche Langzeitkanzlerin bestimmte Politiken als „alternativlos“ darstellte, wohl um schmerzhafte Diskussionen gerade innerhalb ihrer eigenen Partei zu vermeiden – womit sie prompt zur Ausformung einer neuen, radikalen Partei beitrug, die die Alternative im Namen trägt.

Das aber ist die Crux mit der Sprachlosigkeit in der Demokratie. Wer die Auseinandersetzung meidet oder verweigert, trägt dazu bei, dass mehr und mehr Menschen sich ausgeschlossen, ungehört und missachtet fühlen. Menschen, die ihre Sprachlosigkeit dann in Wut umwandeln. Was einer Debatte erst recht nicht zuträglich ist.

Kündigt die Regierung nun einen „Freedom Day“ an, dann will sie einen Schlussstrich ziehen. Unter zwei Jahre weitgehenden Missmanagements einer Gesundheitskrise. Unter all den aufgestauten Ärger, unter die Wut, die sich ungehemmt Bahn bricht. Sie will den notwendigen Auseinandersetzungen aus dem Weg gehen. Diese längst überfälligen Debatten sieht sie nicht vor. Nicht mit der Gesellschaft, nicht mit den Medien und auch nicht mit dem Parlament. Sie verweigert sich der Aussprache und glaubt, mit Marketingsprech davon- und durchzukommen. Ja eh, und Afrika ist ein Land. (fksk, 20.02.2022)

Woche 06 – Adieu, Impfpflicht

Von jetzt an Augen zu und mit Vollgas retour. Das ist, so scheint es, das Motto der österreichischen Regierung in Sachen Impfpflicht. Es treten auf eine paar Landshauptleute, die immer noch ihr Glück nicht fassen können, in der heimischen Innenpolitik wieder (über)gewichtige Rollen einnehmen zu dürfen, dazu ein Ärztekammerpräsident aus einem westlichen Bundesland und ein Bundeskanzler auf dem Weg aus dem Skiurlaub. Und allen ist gemein, dass sie die vor kurzem beschlossene und kürzlich in Kraft getretene (wegen fehlender technischer Voraussetzungen ohnedies nur halbe) Impfpflicht ganz en passant in den Kübel treten.

Die österreichische Regierung nimmt den Kampf gegen die Pandemie auf. Ernsthaft.
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Es sollten, so der ob seiner virologischen Fachkompetenz weithin gerühmte Salzburger Landshauptmann, doch die Experten das Gesetz alsbald evaluieren. Ihm sekundiert die Landeshauptfrau aus Niederösterreich. Und dann wirft sich der Tiroler Ärztekammerpräsident in die Bresche und überlegt eine Aussetzung der Impfpflicht, um die Gesellschaft nicht zu spalten.

Freie Bahn mithin für den Kanzler, der aus dem Auto heraus ein Interview gibt, und die Entscheidung darüber, ob das Gesetz weiterhin gilt, den Experten anheimstellt.

Man merke, nicht der Politik.

Das war es dann, mit der Impfpflicht in Österreich.

Sie wurde schnell und ohne die technischen Voraussetzungen dafür geschaffen zu haben, in die Welt gesetzt. Von Anbeginn also ein etwas ungeschlachtes Ding, weswegen eine Impflotterie Gesetz und Pflicht aufhübschen hätte sollen. Sie wurde von der Politik schon konterkariert, bevor sie überhaupt noch in Kraft getreten war. Und jetzt soll sie bitte schnell wieder verschwinden. Auch aus der Erinnerung der Menschen in diesem Land, die – Gott sei es geklagt – wählen dürfen und wählen werden. Zwar erst in einem Jahr. Aber dann in Niederösterreich. Und in Salzburg.

Es gab und gibt viele gute Gründe, einer Pflicht zum Impfen abwartend, skeptisch oder auch ablehnend gegenüberzustehen, nicht zuletzt die Verhältnismäßigkeit dieser Pflicht. Und das Spannungsverhältnis zwischen individueller und gesellschaftlicher Freiheit, Fragen von Solidarität und Verantwortungsbewusstsein. Das sind Fragen, die in einer Demokratie dringend und immer wieder verhandelt werden müssen. In den Parlamenten, in den Medien, auf der Straße und auf den Bühnen. Und diese Fragen sind es wert, dass ein Gesetz noch ein wenig zuwartet, bevor es beschlossen wird.

Zudem gab es noch mehr und bessere Gründe, der Impfpflicht in ihrer österreichischen Ausformung mit allergrößter Vorsicht zu begegnen. Kaum eine, wenn nicht keine Regierung hat es je zuwege gebracht, in so kurzer Zeit so viel legistischen Unsinn zu produzieren, wie diese. Nach zwei Jahren der Pandemie immer noch derart unbedarft in einen Gesetzgebungsprozess zu stolpern, die Einwände der IT nicht zur Kenntnis zu nehmen und dann aus lauter „jetzt erst recht“ das entsprechende Gesetz im Nationalrat zu verabschieden, ist von besonderer Qualität.

Dass nun aber ein Regierungschef sich hinstellt und binnen kürzester Zeit vor aller Augen Kindsweglegung betreibt, das ist einmalig in seiner Erbärmlichkeit. Derselbe Mann, der vor ein paar Wochen noch die Impfpflicht strikt, wenn auch nicht wortreich, denn Wortreichtum ist seine Sache nicht, eingefordert hat, derselbe Mann, der als Bundeskanzler mit der Opposition dieses Gesetz verhandelt hat, um eine möglichst breite Mehrheit sicherzustellen, dieser Mann hat nicht den Mumm, für dieses sein Gesetz einzustehen und es zu verteidigen. Er fällt allen, die im Nationalrat für dieses Gesetz gestimmt haben, manche trotz gravierender Bedenken, in den Rücken.

So beschädigt man demokratische Prozesse, demokratische Institutionen, die Demokratie ansich. Und zwar dauerhaft. Dass Karl Nehammer sich damit selbst auch beschädigt, ist angesichts des größeren Schadens wahrlich kein Trost. (fksk, 13.02.22)